Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das I. Cap. Vom Ursprunge aus; die lange Ubung in einer Kunst bringt sie endlich zu grös-serer Vollkommenheit, und der Ausputz findet sich offt sehr spät, wenn gleich die Sache selbst längst erfunden gewesen. Jch stelle mir die neuerfundenen Lieder nicht anders vor, als die Evangelien, das Vater unser und andre in ungebundener Rede abgefaßte Lieder, die man noch itzo an vielen Orten sin- get: a. d. s. die Litaney, der Lobgesang Mariä, die Collecten u. d. m. Sätze von ungleicher Größe, ohne eine regelmäßige Abwechselung langer und kurtzer Sylben; ja so gar ohn alle Reime, waren bey den ersten Sängern schon eine Poesie. Die Psalmen der Hebräer, das Lied Mosis, der Gesang den Mirjam beym Durchgange des rothen Meeres angestimmet; u. a. m. können uns davon sattsam überzeugen. So mühsam sich einige Gelehrten mit Hieronymo haben angelegen seyn las- sen, in diesen alten Hebräischen Liedern ein gewisses Sylben- maaß zu finden; so leicht wird doch ein jeder Unpartheyischer sehen, daß alle ihre Arbeit vergebens gewesen. Sie haben es mehr hinein gezwungen als darinn gefunden, und es ist we- der wahrscheinlich noch nöthig, daß die Poesie der ältesten Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt habe, als sie nachmahls bey den Griechen und Römern erlanget. Man hält es also billig mit Jos. Scaligern, der in seinen An- merckungen über Euseb. schreibet: "Die Hebräische Spra- "che ist durchaus nicht auf die Regeln des Griechischen oder "Lateinischen Sylbenmaaßes zu bringen: wenn man gleich "Himmel und Erde durch einander mischen wollte. Selbst die ersten Poeten unsrer Vorfahren habens nicht Latur sa er hakon heitir Eira
Das I. Cap. Vom Urſprunge aus; die lange Ubung in einer Kunſt bringt ſie endlich zu groͤſ-ſerer Vollkommenheit, und der Ausputz findet ſich offt ſehr ſpaͤt, wenn gleich die Sache ſelbſt laͤngſt erfunden geweſen. Jch ſtelle mir die neuerfundenen Lieder nicht anders vor, als die Evangelien, das Vater unſer und andre in ungebundener Rede abgefaßte Lieder, die man noch itzo an vielen Orten ſin- get: a. d. ſ. die Litaney, der Lobgeſang Mariaͤ, die Collecten u. d. m. Saͤtze von ungleicher Groͤße, ohne eine regelmaͤßige Abwechſelung langer und kurtzer Sylben; ja ſo gar ohn alle Reime, waren bey den erſten Saͤngern ſchon eine Poeſie. Die Pſalmen der Hebraͤer, das Lied Moſis, der Geſang den Mirjam beym Durchgange des rothen Meeres angeſtimmet; u. a. m. koͤnnen uns davon ſattſam uͤberzeugen. So muͤhſam ſich einige Gelehrten mit Hieronymo haben angelegen ſeyn laſ- ſen, in dieſen alten Hebraͤiſchen Liedern ein gewiſſes Sylben- maaß zu finden; ſo leicht wird doch ein jeder Unpartheyiſcher ſehen, daß alle ihre Arbeit vergebens geweſen. Sie haben es mehr hinein gezwungen als darinn gefunden, und es iſt we- der wahrſcheinlich noch noͤthig, daß die Poeſie der aͤlteſten Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt habe, als ſie nachmahls bey den Griechen und Roͤmern erlanget. Man haͤlt es alſo billig mit Joſ. Scaligern, der in ſeinen An- merckungen uͤber Euſeb. ſchreibet: „Die Hebraͤiſche Spra- „che iſt durchaus nicht auf die Regeln des Griechiſchen oder „Lateiniſchen Sylbenmaaßes zu bringen: wenn man gleich „Himmel und Erde durch einander miſchen wollte. Selbſt die erſten Poeten unſrer Vorfahren habens nicht Latur ſa er hakon heitir Eira
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Das I. Cap. Vom Urſprunge
aus; die lange Ubung in einer Kunſt bringt ſie endlich zu groͤſ-
ſerer Vollkommenheit, und der Ausputz findet ſich offt ſehr
ſpaͤt, wenn gleich die Sache ſelbſt laͤngſt erfunden geweſen.
Jch ſtelle mir die neuerfundenen Lieder nicht anders vor, als
die Evangelien, das Vater unſer und andre in ungebundener
Rede abgefaßte Lieder, die man noch itzo an vielen Orten ſin-
get: a. d. ſ. die Litaney, der Lobgeſang Mariaͤ, die Collecten
u. d. m. Saͤtze von ungleicher Groͤße, ohne eine regelmaͤßige
Abwechſelung langer und kurtzer Sylben; ja ſo gar ohn alle
Reime, waren bey den erſten Saͤngern ſchon eine Poeſie.
Die Pſalmen der Hebraͤer, das Lied Moſis, der Geſang den
Mirjam beym Durchgange des rothen Meeres angeſtimmet;
u. a. m. koͤnnen uns davon ſattſam uͤberzeugen. So muͤhſam
ſich einige Gelehrten mit Hieronymo haben angelegen ſeyn laſ-
ſen, in dieſen alten Hebraͤiſchen Liedern ein gewiſſes Sylben-
maaß zu finden; ſo leicht wird doch ein jeder Unpartheyiſcher
ſehen, daß alle ihre Arbeit vergebens geweſen. Sie haben
es mehr hinein gezwungen als darinn gefunden, und es iſt we-
der wahrſcheinlich noch noͤthig, daß die Poeſie der aͤlteſten
Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt habe,
als ſie nachmahls bey den Griechen und Roͤmern erlanget.
Man haͤlt es alſo billig mit Joſ. Scaligern, der in ſeinen An-
merckungen uͤber Euſeb. ſchreibet: „Die Hebraͤiſche Spra-
„che iſt durchaus nicht auf die Regeln des Griechiſchen oder
„Lateiniſchen Sylbenmaaßes zu bringen: wenn man gleich
„Himmel und Erde durch einander miſchen wollte.
Selbſt die erſten Poeten unſrer Vorfahren habens nicht
beſſer zu machen gewuſt. Jn Schweden hat man in der Edda
ſolche Uberbleibſel alter Lieder, wo weder Sylbenmaaß noch
Reime gefunden werden. Morhof im Unterr. von der Deutſ.
Spr. p. 268. fuͤhrt folgendes an:
Latur ſa er hakon heitir
Han rakir lid bannat
Jord kan frelſa findum
Fridroß kongar oßa
Sialfur raͤdr alt och Elfar
Eira
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