eine ziemliche Wahrscheinlichkeit vor sich. Leute, die im An- fange der Welt mehr in Gärten oder angenehmen Lustwäl- dern, als in Häusern wohnten, musten ja täglich das Ge- zwitscher so vieler Vögel hören, und den vielfältigen Unter- scheid ihres Geschreyes wahrnehmen. Von Natur waren sie, so wohl als unsre kleinesten Kinder, uns selbst nicht aus- genommen, zum Nachahmen geneigt: Daher konnten sie leicht Lust bekommen, den Gesang desjenigen Vogels, der ihnen am besten gefallen hatte, durch ihre eigene Stimme nachzumachen, und ihre Kehle zu allerley Abwechselungen der Thöne zu gewehnen. Diejenigen, so vor andern glücklich darinn waren, erhielten den Beyfall der andern, und weil man sie gern hörete, legten sie sich desto eifriger auf dergleichen Melodeyen die gut ins Gehör fielen: so daß diese vormahlige Schüler des wilden Gevögels, bald ihre Meister im Singen übertrafen.
Allein es ist nicht nöthig auf solche Muthmaßungen zu verfallen. Der Mensch würde meines Erachtens gesungen haben, wenn er gleich keine Vögel in der Welt gefunden hätte. Lehrt uns nicht die Natur alle unsre Gemüths-Be- wegungen durch einen gewissen Thon der Sprache ausdrü- cken? Was ist das Weinen der Kinder anders als ein Kla- gelied, ein Ausdruck des Schmertzens, den ihnen eine unan- genehme Empfindung verursachet? Was ist das Lachen und Frohlocken anders als eine Art freudiger Gesänge, die einen vergnügten Zustand des Gemüthes ausdrücken? Eine jede Leidenschafft hat ihren eigenen Thon, womit sie sich an den Tag legt. Seufzen, Aechzen, Dräuen, Klagen, Bitten, Schelten, Bewundern, Loben, u. s. w. alles fällt anders ins Ohr; weil es mit einer besondern Veränderung der Stim- me zu geschehen pflegt. Weil man nun angemercket, daß die natürlich ausgedrückten Leidenschafften auch bey andern, eben dergleichen zu erwecken geschickt wären; so liessen sichs die Freudigen, Traurigen, Zürnenden, Verliebten u. s. w. destomehr angelegen seyn, ihre Gemüths-Beschaffenheit auf
eine
Das I. Cap. Vom Urſprunge
eine ziemliche Wahrſcheinlichkeit vor ſich. Leute, die im An- fange der Welt mehr in Gaͤrten oder angenehmen Luſtwaͤl- dern, als in Haͤuſern wohnten, muſten ja taͤglich das Ge- zwitſcher ſo vieler Voͤgel hoͤren, und den vielfaͤltigen Unter- ſcheid ihres Geſchreyes wahrnehmen. Von Natur waren ſie, ſo wohl als unſre kleineſten Kinder, uns ſelbſt nicht aus- genommen, zum Nachahmen geneigt: Daher konnten ſie leicht Luſt bekommen, den Geſang desjenigen Vogels, der ihnen am beſten gefallen hatte, durch ihre eigene Stimme nachzumachen, und ihre Kehle zu allerley Abwechſelungen der Thoͤne zu gewehnen. Diejenigen, ſo vor andern gluͤcklich darinn waren, erhielten den Beyfall der andern, und weil man ſie gern hoͤrete, legten ſie ſich deſto eifriger auf dergleichen Melodeyen die gut ins Gehoͤr fielen: ſo daß dieſe vormahlige Schuͤler des wilden Gevoͤgels, bald ihre Meiſter im Singen uͤbertrafen.
Allein es iſt nicht noͤthig auf ſolche Muthmaßungen zu verfallen. Der Menſch wuͤrde meines Erachtens geſungen haben, wenn er gleich keine Voͤgel in der Welt gefunden haͤtte. Lehrt uns nicht die Natur alle unſre Gemuͤths-Be- wegungen durch einen gewiſſen Thon der Sprache ausdruͤ- cken? Was iſt das Weinen der Kinder anders als ein Kla- gelied, ein Ausdruck des Schmertzens, den ihnen eine unan- genehme Empfindung verurſachet? Was iſt das Lachen und Frohlocken anders als eine Art freudiger Geſaͤnge, die einen vergnuͤgten Zuſtand des Gemuͤthes ausdruͤcken? Eine jede Leidenſchafft hat ihren eigenen Thon, womit ſie ſich an den Tag legt. Seufzen, Aechzen, Draͤuen, Klagen, Bitten, Schelten, Bewundern, Loben, u. ſ. w. alles faͤllt anders ins Ohr; weil es mit einer beſondern Veraͤnderung der Stim- me zu geſchehen pflegt. Weil man nun angemercket, daß die natuͤrlich ausgedruͤckten Leidenſchafften auch bey andern, eben dergleichen zu erwecken geſchickt waͤren; ſo lieſſen ſichs die Freudigen, Traurigen, Zuͤrnenden, Verliebten u. ſ. w. deſtomehr angelegen ſeyn, ihre Gemuͤths-Beſchaffenheit auf
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[58/0086]
Das I. Cap. Vom Urſprunge
eine ziemliche Wahrſcheinlichkeit vor ſich. Leute, die im An-
fange der Welt mehr in Gaͤrten oder angenehmen Luſtwaͤl-
dern, als in Haͤuſern wohnten, muſten ja taͤglich das Ge-
zwitſcher ſo vieler Voͤgel hoͤren, und den vielfaͤltigen Unter-
ſcheid ihres Geſchreyes wahrnehmen. Von Natur waren
ſie, ſo wohl als unſre kleineſten Kinder, uns ſelbſt nicht aus-
genommen, zum Nachahmen geneigt: Daher konnten ſie
leicht Luſt bekommen, den Geſang desjenigen Vogels, der
ihnen am beſten gefallen hatte, durch ihre eigene Stimme
nachzumachen, und ihre Kehle zu allerley Abwechſelungen
der Thoͤne zu gewehnen. Diejenigen, ſo vor andern gluͤcklich
darinn waren, erhielten den Beyfall der andern, und weil
man ſie gern hoͤrete, legten ſie ſich deſto eifriger auf dergleichen
Melodeyen die gut ins Gehoͤr fielen: ſo daß dieſe vormahlige
Schuͤler des wilden Gevoͤgels, bald ihre Meiſter im Singen
uͤbertrafen.
Allein es iſt nicht noͤthig auf ſolche Muthmaßungen zu
verfallen. Der Menſch wuͤrde meines Erachtens geſungen
haben, wenn er gleich keine Voͤgel in der Welt gefunden
haͤtte. Lehrt uns nicht die Natur alle unſre Gemuͤths-Be-
wegungen durch einen gewiſſen Thon der Sprache ausdruͤ-
cken? Was iſt das Weinen der Kinder anders als ein Kla-
gelied, ein Ausdruck des Schmertzens, den ihnen eine unan-
genehme Empfindung verurſachet? Was iſt das Lachen und
Frohlocken anders als eine Art freudiger Geſaͤnge, die einen
vergnuͤgten Zuſtand des Gemuͤthes ausdruͤcken? Eine jede
Leidenſchafft hat ihren eigenen Thon, womit ſie ſich an den
Tag legt. Seufzen, Aechzen, Draͤuen, Klagen, Bitten,
Schelten, Bewundern, Loben, u. ſ. w. alles faͤllt anders
ins Ohr; weil es mit einer beſondern Veraͤnderung der Stim-
me zu geſchehen pflegt. Weil man nun angemercket, daß
die natuͤrlich ausgedruͤckten Leidenſchafften auch bey andern,
eben dergleichen zu erwecken geſchickt waͤren; ſo lieſſen ſichs die
Freudigen, Traurigen, Zuͤrnenden, Verliebten u. ſ. w.
deſtomehr angelegen ſeyn, ihre Gemuͤths-Beſchaffenheit auf
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/86>, abgerufen am 27.07.2024.
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