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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Tragödien oder Trauerspielen.
denn abermahl ihre Schreibart die unnatürlichste von der
Welt wird. Eben das ist von der Gelehrsamkeit und Bele-
senheit zu mercken, so diese beyde Tragödien-Schreiber ihren
Personen zu leyhen pflegen. Sie schicket sich vor dieselbe
nicht, zumahl wenn sie im Affecte reden; und könnte an be-
quemere Oerter versparet werden.

Wir kommen auf die Musick, die bey den Alten in der
Tragödie einer von den besten Zierrathen war. Woher das
gekommen, ist aus dem obigen leicht abzunehmen. Die Lie-
der, so der Chor sang, wurden mit Jnstrumenten begleitet;
und weil diese einen wesentlichen Theil ihrer Schauspiele aus-
machten; so rechneten sie die Music mit zur Tragödie. Daß
diese Music aber sehr starck müsse gewesen seyn, erhellet aus
der Zahl der Personen im Chore, die zuweilen bis funfzig
hinanlief. Und diese starcke Chöre daureten so lange, bis
Euripides in dem Trauerspiele, Eumenides, einen so zahlrei-
chen Chor rasender Furien mit schwartzen Pechfackeln auf-
führete; dadurch ein solches Entsetzen in dem Schauplatze
entstund, daß die Kinder vor Schrecken todt blieben, die
schwangern Weiber aber auf der Stelle niederkamen. Dar-
auf wurde von der Obrigkeit befohlen, den Chor künftig nur
aus 15 Personen bestehen zu lassen. Bey uns sind die Chöre
nicht gewöhnlich, obgleich unsre Tragödienschreiber sie nach
der alten Art bey jeder Handlung angehänget haben. Die
Music der Stimmen fällt also gäntzlich weg; nur die Jnstru-
mente lassen sich zwischen jeder Handlung mit allerhand lusti-
gen Stücken hören. Weil aber diese die Zuschauer gantz
aus der Aufmercksamkeit auf die vorigen Vorstellungen brin-
gen; so fragt sichs, ob es nicht möglich wäre, anstatt der al-
ten Oden des Chores, eine nach unsrer Art eingerichtete Can-
tata von etlichen Vocalisten absingen zu lassen: Aber eine sol-
che, die sich allezeit zu den kurtz zuvor gespielten Begebenhei-
ten schickte, und folglich moralische Betrachtungen darüber
anstellete. Dieses würde ohne Zweifel die Zuhörer in dem
Affecte, darinn sie schon stünden, erhalten, und zum bevorste-
henden desto besser zubereiten. Und eine solche Tragödie
müste zehnmahl schöner seyn als eine Opera, die den Liebha-

bern
O o 3

Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
denn abermahl ihre Schreibart die unnatuͤrlichſte von der
Welt wird. Eben das iſt von der Gelehrſamkeit und Bele-
ſenheit zu mercken, ſo dieſe beyde Tragoͤdien-Schreiber ihren
Perſonen zu leyhen pflegen. Sie ſchicket ſich vor dieſelbe
nicht, zumahl wenn ſie im Affecte reden; und koͤnnte an be-
quemere Oerter verſparet werden.

Wir kommen auf die Muſick, die bey den Alten in der
Tragoͤdie einer von den beſten Zierrathen war. Woher das
gekommen, iſt aus dem obigen leicht abzunehmen. Die Lie-
der, ſo der Chor ſang, wurden mit Jnſtrumenten begleitet;
und weil dieſe einen weſentlichen Theil ihrer Schauſpiele aus-
machten; ſo rechneten ſie die Muſic mit zur Tragoͤdie. Daß
dieſe Muſic aber ſehr ſtarck muͤſſe geweſen ſeyn, erhellet aus
der Zahl der Perſonen im Chore, die zuweilen bis funfzig
hinanlief. Und dieſe ſtarcke Choͤre daureten ſo lange, bis
Euripides in dem Trauerſpiele, Eumenides, einen ſo zahlrei-
chen Chor raſender Furien mit ſchwartzen Pechfackeln auf-
fuͤhrete; dadurch ein ſolches Entſetzen in dem Schauplatze
entſtund, daß die Kinder vor Schrecken todt blieben, die
ſchwangern Weiber aber auf der Stelle niederkamen. Dar-
auf wurde von der Obrigkeit befohlen, den Chor kuͤnftig nur
aus 15 Perſonen beſtehen zu laſſen. Bey uns ſind die Choͤre
nicht gewoͤhnlich, obgleich unſre Tragoͤdienſchreiber ſie nach
der alten Art bey jeder Handlung angehaͤnget haben. Die
Muſic der Stimmen faͤllt alſo gaͤntzlich weg; nur die Jnſtru-
mente laſſen ſich zwiſchen jeder Handlung mit allerhand luſti-
gen Stuͤcken hoͤren. Weil aber dieſe die Zuſchauer gantz
aus der Aufmerckſamkeit auf die vorigen Vorſtellungen brin-
gen; ſo fragt ſichs, ob es nicht moͤglich waͤre, anſtatt der al-
ten Oden des Chores, eine nach unſrer Art eingerichtete Can-
tata von etlichen Vocaliſten abſingen zu laſſen: Aber eine ſol-
che, die ſich allezeit zu den kurtz zuvor geſpielten Begebenhei-
ten ſchickte, und folglich moraliſche Betrachtungen daruͤber
anſtellete. Dieſes wuͤrde ohne Zweifel die Zuhoͤrer in dem
Affecte, darinn ſie ſchon ſtuͤnden, erhalten, und zum bevorſte-
henden deſto beſſer zubereiten. Und eine ſolche Tragoͤdie
muͤſte zehnmahl ſchoͤner ſeyn als eine Opera, die den Liebha-

bern
O o 3
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[581/0609] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. denn abermahl ihre Schreibart die unnatuͤrlichſte von der Welt wird. Eben das iſt von der Gelehrſamkeit und Bele- ſenheit zu mercken, ſo dieſe beyde Tragoͤdien-Schreiber ihren Perſonen zu leyhen pflegen. Sie ſchicket ſich vor dieſelbe nicht, zumahl wenn ſie im Affecte reden; und koͤnnte an be- quemere Oerter verſparet werden. Wir kommen auf die Muſick, die bey den Alten in der Tragoͤdie einer von den beſten Zierrathen war. Woher das gekommen, iſt aus dem obigen leicht abzunehmen. Die Lie- der, ſo der Chor ſang, wurden mit Jnſtrumenten begleitet; und weil dieſe einen weſentlichen Theil ihrer Schauſpiele aus- machten; ſo rechneten ſie die Muſic mit zur Tragoͤdie. Daß dieſe Muſic aber ſehr ſtarck muͤſſe geweſen ſeyn, erhellet aus der Zahl der Perſonen im Chore, die zuweilen bis funfzig hinanlief. Und dieſe ſtarcke Choͤre daureten ſo lange, bis Euripides in dem Trauerſpiele, Eumenides, einen ſo zahlrei- chen Chor raſender Furien mit ſchwartzen Pechfackeln auf- fuͤhrete; dadurch ein ſolches Entſetzen in dem Schauplatze entſtund, daß die Kinder vor Schrecken todt blieben, die ſchwangern Weiber aber auf der Stelle niederkamen. Dar- auf wurde von der Obrigkeit befohlen, den Chor kuͤnftig nur aus 15 Perſonen beſtehen zu laſſen. Bey uns ſind die Choͤre nicht gewoͤhnlich, obgleich unſre Tragoͤdienſchreiber ſie nach der alten Art bey jeder Handlung angehaͤnget haben. Die Muſic der Stimmen faͤllt alſo gaͤntzlich weg; nur die Jnſtru- mente laſſen ſich zwiſchen jeder Handlung mit allerhand luſti- gen Stuͤcken hoͤren. Weil aber dieſe die Zuſchauer gantz aus der Aufmerckſamkeit auf die vorigen Vorſtellungen brin- gen; ſo fragt ſichs, ob es nicht moͤglich waͤre, anſtatt der al- ten Oden des Chores, eine nach unſrer Art eingerichtete Can- tata von etlichen Vocaliſten abſingen zu laſſen: Aber eine ſol- che, die ſich allezeit zu den kurtz zuvor geſpielten Begebenhei- ten ſchickte, und folglich moraliſche Betrachtungen daruͤber anſtellete. Dieſes wuͤrde ohne Zweifel die Zuhoͤrer in dem Affecte, darinn ſie ſchon ſtuͤnden, erhalten, und zum bevorſte- henden deſto beſſer zubereiten. Und eine ſolche Tragoͤdie muͤſte zehnmahl ſchoͤner ſeyn als eine Opera, die den Liebha- bern O o 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/609>, abgerufen am 29.03.2024.