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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Tragödien oder Trauerspielen.
diesen Nahmen. Die guten Poeten nun, so ihre Einbil-
dungs-Krafft durch die Vernunft in den Schrancken zu hal-
ten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahr-
scheinlichkeit zu mäßigen gewust, sind auch bey einer vernünf-
tigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die schwachen
Geister aber, die ihrer Phantasie folgen, musten wohin sie
wollte; verstiegen sich gar zu hoch, so daß Horatz sie beschul-
diget, sie hätten bisweilen solche Rätzel, als die Delphische
Priesterin gemacht:

Et tulit eloquium insolitum facundia praeceps,
- - - - - & diuina futuri
Sortilegis non discrepuit sententia Delphis.

Ja er verbietet gleich darauf ausdrücklich, daß man die tragi-
schen Personen weder zu niedrig, noch zu hochtrabend solle re-
den lassen:

Ne, quicunque Deus, quicunque adhibebitur heros,
Migret in obscuras humili sermone tabernas:
Aut, dum vitat humum, nubes & inania captet.

Jn dieser falschen Hoheit ist nun bey den Lateinern Seneca
in seinen Tragödien; und bey uns Lohenstein gantz unerträg-
lich. Alle ihre Personen, die sie aufführen, reden lauter
Phöbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poe-
tischen Schreibart angemercket worden. Unser Andreas
Gryphius ist doch weit vernünftiger in diesem Stücke. Jch
mag die Weitläuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden
anführen: Man darf aber nur gleich des erstern Agrippina,
mit Carl Stuarten von diesem; oder auch die Sophonisbe
mit dem Leo Armenius zusammen halten, so wird man den
Unterscheid gleich mercken. Sonderlich drucken die Lohen-
steinischen Personen niemahls den Affect recht natürlich aus:
sondern da sie im Schmertze aufhören sollten auf Steltzen
zu gehen; so bleiben sie unverändert bey ihren scharfsinnigen
Sprüchen und künstlichen Spitzfindigkeiten. Das Erste
hat uns Horatz ausdrücklich gelehret:

Et tragicus plerumque dolet sermone pedestri
Telephus & Peleus: cum pauper & exsul vterque
Proiicit ampullas & sesquipedalia verba.
Si curat cor spectantis tetigisse querela.

Die
O o 2

Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
dieſen Nahmen. Die guten Poeten nun, ſo ihre Einbil-
dungs-Krafft durch die Vernunft in den Schrancken zu hal-
ten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahr-
ſcheinlichkeit zu maͤßigen gewuſt, ſind auch bey einer vernuͤnf-
tigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die ſchwachen
Geiſter aber, die ihrer Phantaſie folgen, muſten wohin ſie
wollte; verſtiegen ſich gar zu hoch, ſo daß Horatz ſie beſchul-
diget, ſie haͤtten bisweilen ſolche Raͤtzel, als die Delphiſche
Prieſterin gemacht:

Et tulit eloquium inſolitum facundia praeceps,
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ & diuina futuri
Sortilegis non diſcrepuit ſententia Delphis.

Ja er verbietet gleich darauf ausdruͤcklich, daß man die tragi-
ſchen Perſonen weder zu niedrig, noch zu hochtrabend ſolle re-
den laſſen:

Ne, quicunque Deus, quicunque adhibebitur heros,
Migret in obſcuras humili ſermone tabernas:
Aut, dum vitat humum, nubes & inania captet.

Jn dieſer falſchen Hoheit iſt nun bey den Lateinern Seneca
in ſeinen Tragoͤdien; und bey uns Lohenſtein gantz unertraͤg-
lich. Alle ihre Perſonen, die ſie auffuͤhren, reden lauter
Phoͤbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poe-
tiſchen Schreibart angemercket worden. Unſer Andreas
Gryphius iſt doch weit vernuͤnftiger in dieſem Stuͤcke. Jch
mag die Weitlaͤuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden
anfuͤhren: Man darf aber nur gleich des erſtern Agrippina,
mit Carl Stuarten von dieſem; oder auch die Sophonisbe
mit dem Leo Armenius zuſammen halten, ſo wird man den
Unterſcheid gleich mercken. Sonderlich drucken die Lohen-
ſteiniſchen Perſonen niemahls den Affect recht natuͤrlich aus:
ſondern da ſie im Schmertze aufhoͤren ſollten auf Steltzen
zu gehen; ſo bleiben ſie unveraͤndert bey ihren ſcharfſinnigen
Spruͤchen und kuͤnſtlichen Spitzfindigkeiten. Das Erſte
hat uns Horatz ausdruͤcklich gelehret:

Et tragicus plerumque dolet ſermone pedeſtri
Telephus & Peleus: cum pauper & exſul vterque
Proiicit ampullas & ſesquipedalia verba.
Si curat cor ſpectantis tetigiſſe querela.

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[579/0607] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. dieſen Nahmen. Die guten Poeten nun, ſo ihre Einbil- dungs-Krafft durch die Vernunft in den Schrancken zu hal- ten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahr- ſcheinlichkeit zu maͤßigen gewuſt, ſind auch bey einer vernuͤnf- tigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die ſchwachen Geiſter aber, die ihrer Phantaſie folgen, muſten wohin ſie wollte; verſtiegen ſich gar zu hoch, ſo daß Horatz ſie beſchul- diget, ſie haͤtten bisweilen ſolche Raͤtzel, als die Delphiſche Prieſterin gemacht: Et tulit eloquium inſolitum facundia praeceps, ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ & diuina futuri Sortilegis non diſcrepuit ſententia Delphis. Ja er verbietet gleich darauf ausdruͤcklich, daß man die tragi- ſchen Perſonen weder zu niedrig, noch zu hochtrabend ſolle re- den laſſen: Ne, quicunque Deus, quicunque adhibebitur heros, Migret in obſcuras humili ſermone tabernas: Aut, dum vitat humum, nubes & inania captet. Jn dieſer falſchen Hoheit iſt nun bey den Lateinern Seneca in ſeinen Tragoͤdien; und bey uns Lohenſtein gantz unertraͤg- lich. Alle ihre Perſonen, die ſie auffuͤhren, reden lauter Phoͤbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poe- tiſchen Schreibart angemercket worden. Unſer Andreas Gryphius iſt doch weit vernuͤnftiger in dieſem Stuͤcke. Jch mag die Weitlaͤuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden anfuͤhren: Man darf aber nur gleich des erſtern Agrippina, mit Carl Stuarten von dieſem; oder auch die Sophonisbe mit dem Leo Armenius zuſammen halten, ſo wird man den Unterſcheid gleich mercken. Sonderlich drucken die Lohen- ſteiniſchen Perſonen niemahls den Affect recht natuͤrlich aus: ſondern da ſie im Schmertze aufhoͤren ſollten auf Steltzen zu gehen; ſo bleiben ſie unveraͤndert bey ihren ſcharfſinnigen Spruͤchen und kuͤnſtlichen Spitzfindigkeiten. Das Erſte hat uns Horatz ausdruͤcklich gelehret: Et tragicus plerumque dolet ſermone pedeſtri Telephus & Peleus: cum pauper & exſul vterque Proiicit ampullas & ſesquipedalia verba. Si curat cor ſpectantis tetigiſſe querela. Die O o 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/607>, abgerufen am 25.04.2024.