allezeit in seinen Liedern solche moralische Betrachtungen, Gebete und Lobgesänge anstimmete, die sich zu der unmittel- bar vorhergehenden Handlung schicketen. Diese lernte man damahls gar auswendig, und pflegte sie im gemeinen Leben als Lehrsätze und Dencksprüche bey Gelegenheit anzubrin- gen; so wie wir itzo die Schrifft, und unsre geistliche Lieder anzuziehen pflegen.
Bey den Griechen war also, selbst nach dem Urtheile A- ristotelis, die Tragödie zu ihrer Vollkommenheit gebracht; und kan in diesem ihrem Zustande, gar wohl ein Trauerspiel heissen: weil sie zu ihrer Absicht hatte, Traurigkeit, Schre- cken, Mitleiden und Bewunderung bey den Zuschauern zu erwecken. Aristoteles beschreibt sie derowegen als eine Nachahmung einer Handlung, dadurch sich eine vornehme Person harte und unvermuthete Unglücks-Fälle zuziehet. Der Poet will also durch die Fabeln Wahrheiten lehren, die Zuschauer aber durch den Anblick solcher schweren Fälle der Großen dieser Welt, zu ihren eigenen Trübsalen vorbereiten. Z. E. Oedipus, eins der berühmtesten Trauerspiele Sopho- clis, stellt das klägliche Ende vor, welches dieser Thebanische König um seiner abscheulichen Laster halber genommen; wiewohl er fast ohne seine Schuld darein gefallen war. Das will eben Aristoteles haben, wenn er sagt, die Helden einer Tragödie müsten weder recht schlimm, noch recht gut seyn. Nicht recht schlimm, weil man sonst mit ihrem Un- glücke kein Mitleiden haben, sondern sich darüber freuen würde: Aber auch nicht recht gut; weil man sonst die Vor- sehung leicht einer Ungerechtigkeit beschuldigen könnte, wenn sie unschuldige Leute so hart gestrafet hätte. So war nun Oedipus. Als ihm das Orackel in seiner Jugend antwortet: Er würde seinen Vater erschlagen und mit seiner Mutter Blutschande treiben; hat er einen solchen Abscheu vor diesen Lastern, daß er Corinth verläßt, wo er als ein königlicher Printz erzogen war, und sich also der Krone begiebt, die er zu hoffen hatte: Bloß weil er fürchtete, den Mord an seinem Vater, und die Unzucht mit seiner Mutter zu begehen. Da er aber in Griechenland als ein Flüchtiger herum schweifet,
und
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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
allezeit in ſeinen Liedern ſolche moraliſche Betrachtungen, Gebete und Lobgeſaͤnge anſtimmete, die ſich zu der unmittel- bar vorhergehenden Handlung ſchicketen. Dieſe lernte man damahls gar auswendig, und pflegte ſie im gemeinen Leben als Lehrſaͤtze und Denckſpruͤche bey Gelegenheit anzubrin- gen; ſo wie wir itzo die Schrifft, und unſre geiſtliche Lieder anzuziehen pflegen.
Bey den Griechen war alſo, ſelbſt nach dem Urtheile A- riſtotelis, die Tragoͤdie zu ihrer Vollkommenheit gebracht; und kan in dieſem ihrem Zuſtande, gar wohl ein Trauerſpiel heiſſen: weil ſie zu ihrer Abſicht hatte, Traurigkeit, Schre- cken, Mitleiden und Bewunderung bey den Zuſchauern zu erwecken. Ariſtoteles beſchreibt ſie derowegen als eine Nachahmung einer Handlung, dadurch ſich eine vornehme Perſon harte und unvermuthete Ungluͤcks-Faͤlle zuziehet. Der Poet will alſo durch die Fabeln Wahrheiten lehren, die Zuſchauer aber durch den Anblick ſolcher ſchweren Faͤlle der Großen dieſer Welt, zu ihren eigenen Truͤbſalen vorbereiten. Z. E. Oedipus, eins der beruͤhmteſten Trauerſpiele Sopho- clis, ſtellt das klaͤgliche Ende vor, welches dieſer Thebaniſche Koͤnig um ſeiner abſcheulichen Laſter halber genommen; wiewohl er faſt ohne ſeine Schuld darein gefallen war. Das will eben Ariſtoteles haben, wenn er ſagt, die Helden einer Tragoͤdie muͤſten weder recht ſchlimm, noch recht gut ſeyn. Nicht recht ſchlimm, weil man ſonſt mit ihrem Un- gluͤcke kein Mitleiden haben, ſondern ſich daruͤber freuen wuͤrde: Aber auch nicht recht gut; weil man ſonſt die Vor- ſehung leicht einer Ungerechtigkeit beſchuldigen koͤnnte, wenn ſie unſchuldige Leute ſo hart geſtrafet haͤtte. So war nun Oedipus. Als ihm das Orackel in ſeiner Jugend antwortet: Er wuͤrde ſeinen Vater erſchlagen und mit ſeiner Mutter Blutſchande treiben; hat er einen ſolchen Abſcheu vor dieſen Laſtern, daß er Corinth verlaͤßt, wo er als ein koͤniglicher Printz erzogen war, und ſich alſo der Krone begiebt, die er zu hoffen hatte: Bloß weil er fuͤrchtete, den Mord an ſeinem Vater, und die Unzucht mit ſeiner Mutter zu begehen. Da er aber in Griechenland als ein Fluͤchtiger herum ſchweifet,
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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
allezeit in ſeinen Liedern ſolche moraliſche Betrachtungen,
Gebete und Lobgeſaͤnge anſtimmete, die ſich zu der unmittel-
bar vorhergehenden Handlung ſchicketen. Dieſe lernte man
damahls gar auswendig, und pflegte ſie im gemeinen Leben
als Lehrſaͤtze und Denckſpruͤche bey Gelegenheit anzubrin-
gen; ſo wie wir itzo die Schrifft, und unſre geiſtliche Lieder
anzuziehen pflegen.
Bey den Griechen war alſo, ſelbſt nach dem Urtheile A-
riſtotelis, die Tragoͤdie zu ihrer Vollkommenheit gebracht;
und kan in dieſem ihrem Zuſtande, gar wohl ein Trauerſpiel
heiſſen: weil ſie zu ihrer Abſicht hatte, Traurigkeit, Schre-
cken, Mitleiden und Bewunderung bey den Zuſchauern zu
erwecken. Ariſtoteles beſchreibt ſie derowegen als eine
Nachahmung einer Handlung, dadurch ſich eine vornehme
Perſon harte und unvermuthete Ungluͤcks-Faͤlle zuziehet.
Der Poet will alſo durch die Fabeln Wahrheiten lehren, die
Zuſchauer aber durch den Anblick ſolcher ſchweren Faͤlle der
Großen dieſer Welt, zu ihren eigenen Truͤbſalen vorbereiten.
Z. E. Oedipus, eins der beruͤhmteſten Trauerſpiele Sopho-
clis, ſtellt das klaͤgliche Ende vor, welches dieſer Thebaniſche
Koͤnig um ſeiner abſcheulichen Laſter halber genommen;
wiewohl er faſt ohne ſeine Schuld darein gefallen war.
Das will eben Ariſtoteles haben, wenn er ſagt, die Helden
einer Tragoͤdie muͤſten weder recht ſchlimm, noch recht gut
ſeyn. Nicht recht ſchlimm, weil man ſonſt mit ihrem Un-
gluͤcke kein Mitleiden haben, ſondern ſich daruͤber freuen
wuͤrde: Aber auch nicht recht gut; weil man ſonſt die Vor-
ſehung leicht einer Ungerechtigkeit beſchuldigen koͤnnte, wenn
ſie unſchuldige Leute ſo hart geſtrafet haͤtte. So war nun
Oedipus. Als ihm das Orackel in ſeiner Jugend antwortet:
Er wuͤrde ſeinen Vater erſchlagen und mit ſeiner Mutter
Blutſchande treiben; hat er einen ſolchen Abſcheu vor dieſen
Laſtern, daß er Corinth verlaͤßt, wo er als ein koͤniglicher
Printz erzogen war, und ſich alſo der Krone begiebt, die er
zu hoffen hatte: Bloß weil er fuͤrchtete, den Mord an ſeinem
Vater, und die Unzucht mit ſeiner Mutter zu begehen. Da
er aber in Griechenland als ein Fluͤchtiger herum ſchweifet,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/595>, abgerufen am 25.11.2024.
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