Zweytens muß die Erzehlung wahrscheinlich seyn. Offt ist die Wahrheit selbst unwahrscheinlich; und offt ist herge- gen die Unwahrheit, ja selbst das Unmögliche sehr wahr- scheinlich. Der Poet will mit seiner Fabel Glauben finden: Also muß er lieber wahrscheinliche Dinge erzehlen, gesetzt, daß sie nicht wahr wären: als die Wahrheit sagen, wenn man sie nicht glauben würde. Doch auch davon habe ich schon im VIten Capitel gehandelt.
Drittens muß die Poetische Erzehlung wunderbar seyn. Die allergemeinsten Sachen sind die wahrscheinlichsten; allein diese erwecken keine Bewunderung. Das Ausser- ordentliche und Ungewöhnliche thut es weit besser. Das Unmögliche hingegen, oder was wir zum wenigsten allezeit davor gehalten haben, kan solches gar nicht thun; man mag es uns erzehlen so schön als man will. Es ist also eine große Kunst das Wahrscheinliche mit dem Wunderbaren geschickt zu verbinden.
Zum vierten muß die epische Erzehlung auch beweglich seyn. Eine schläfrige Historie hat keine Anmuth, die leb- haffte Schreibart des Poeten, voller Figuren und Affecten, die bezaubert und entzücket den Leser dergestalt; daß Horatz die Poeten, so diese Kunst verstehen, mit den Hexenmeistern vergleicht, die ihn erschrecken, besänftigen und aufbringen können. Und in der That wollen die menschlichen Affecten ohn Unterlaß gerührt seyn; denn eine angenehme Unruhe ist besser als eine gar zu einträchtige Stille, worinn nichts verän- derliches vorkommt.
Endlich muß die Erzehlung auch dramatisch oder wirck- sam seyn; das ist, es müssen viel redende Personen einge- führt werden. So offt es dem Poeten möglich ist, muß er einen andern seine Rolle spielen lassen; und sich dadurch der Tragödie so viel als ihm möglich ist, zu nähern suchen.
Es darf aber der Poet in seinen Erzehlungen nicht im- mer der Zeitordnung folgen; sondern auch zuweilen mitten in einer Begebenheit etwas nachholen, was lange zuvor ge- schehen ist: wie Virgil mit der Eroberung der Stadt Troja gemacht[,]hat. Die Länge der Erzehlung in einem Helden-
Gedicht
Des II Theils IX Capitel
Zweytens muß die Erzehlung wahrſcheinlich ſeyn. Offt iſt die Wahrheit ſelbſt unwahrſcheinlich; und offt iſt herge- gen die Unwahrheit, ja ſelbſt das Unmoͤgliche ſehr wahr- ſcheinlich. Der Poet will mit ſeiner Fabel Glauben finden: Alſo muß er lieber wahrſcheinliche Dinge erzehlen, geſetzt, daß ſie nicht wahr waͤren: als die Wahrheit ſagen, wenn man ſie nicht glauben wuͤrde. Doch auch davon habe ich ſchon im VIten Capitel gehandelt.
Drittens muß die Poetiſche Erzehlung wunderbar ſeyn. Die allergemeinſten Sachen ſind die wahrſcheinlichſten; allein dieſe erwecken keine Bewunderung. Das Auſſer- ordentliche und Ungewoͤhnliche thut es weit beſſer. Das Unmoͤgliche hingegen, oder was wir zum wenigſten allezeit davor gehalten haben, kan ſolches gar nicht thun; man mag es uns erzehlen ſo ſchoͤn als man will. Es iſt alſo eine große Kunſt das Wahrſcheinliche mit dem Wunderbaren geſchickt zu verbinden.
Zum vierten muß die epiſche Erzehlung auch beweglich ſeyn. Eine ſchlaͤfrige Hiſtorie hat keine Anmuth, die leb- haffte Schreibart des Poeten, voller Figuren und Affecten, die bezaubert und entzuͤcket den Leſer dergeſtalt; daß Horatz die Poeten, ſo dieſe Kunſt verſtehen, mit den Hexenmeiſtern vergleicht, die ihn erſchrecken, beſaͤnftigen und aufbringen koͤnnen. Und in der That wollen die menſchlichen Affecten ohn Unterlaß geruͤhrt ſeyn; denn eine angenehme Unruhe iſt beſſer als eine gar zu eintraͤchtige Stille, worinn nichts veraͤn- derliches vorkommt.
Endlich muß die Erzehlung auch dramatiſch oder wirck- ſam ſeyn; das iſt, es muͤſſen viel redende Perſonen einge- fuͤhrt werden. So offt es dem Poeten moͤglich iſt, muß er einen andern ſeine Rolle ſpielen laſſen; und ſich dadurch der Tragoͤdie ſo viel als ihm moͤglich iſt, zu naͤhern ſuchen.
Es darf aber der Poet in ſeinen Erzehlungen nicht im- mer der Zeitordnung folgen; ſondern auch zuweilen mitten in einer Begebenheit etwas nachholen, was lange zuvor ge- ſchehen iſt: wie Virgil mit der Eroberung der Stadt Troja gemacht[,]hat. Die Laͤnge der Erzehlung in einem Helden-
Gedicht
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[558/0586]
Des II Theils IX Capitel
Zweytens muß die Erzehlung wahrſcheinlich ſeyn. Offt
iſt die Wahrheit ſelbſt unwahrſcheinlich; und offt iſt herge-
gen die Unwahrheit, ja ſelbſt das Unmoͤgliche ſehr wahr-
ſcheinlich. Der Poet will mit ſeiner Fabel Glauben finden:
Alſo muß er lieber wahrſcheinliche Dinge erzehlen, geſetzt,
daß ſie nicht wahr waͤren: als die Wahrheit ſagen, wenn
man ſie nicht glauben wuͤrde. Doch auch davon habe ich
ſchon im VIten Capitel gehandelt.
Drittens muß die Poetiſche Erzehlung wunderbar ſeyn.
Die allergemeinſten Sachen ſind die wahrſcheinlichſten;
allein dieſe erwecken keine Bewunderung. Das Auſſer-
ordentliche und Ungewoͤhnliche thut es weit beſſer. Das
Unmoͤgliche hingegen, oder was wir zum wenigſten allezeit
davor gehalten haben, kan ſolches gar nicht thun; man mag
es uns erzehlen ſo ſchoͤn als man will. Es iſt alſo eine große
Kunſt das Wahrſcheinliche mit dem Wunderbaren geſchickt
zu verbinden.
Zum vierten muß die epiſche Erzehlung auch beweglich
ſeyn. Eine ſchlaͤfrige Hiſtorie hat keine Anmuth, die leb-
haffte Schreibart des Poeten, voller Figuren und Affecten,
die bezaubert und entzuͤcket den Leſer dergeſtalt; daß Horatz
die Poeten, ſo dieſe Kunſt verſtehen, mit den Hexenmeiſtern
vergleicht, die ihn erſchrecken, beſaͤnftigen und aufbringen
koͤnnen. Und in der That wollen die menſchlichen Affecten
ohn Unterlaß geruͤhrt ſeyn; denn eine angenehme Unruhe iſt
beſſer als eine gar zu eintraͤchtige Stille, worinn nichts veraͤn-
derliches vorkommt.
Endlich muß die Erzehlung auch dramatiſch oder wirck-
ſam ſeyn; das iſt, es muͤſſen viel redende Perſonen einge-
fuͤhrt werden. So offt es dem Poeten moͤglich iſt, muß er
einen andern ſeine Rolle ſpielen laſſen; und ſich dadurch der
Tragoͤdie ſo viel als ihm moͤglich iſt, zu naͤhern ſuchen.
Es darf aber der Poet in ſeinen Erzehlungen nicht im-
mer der Zeitordnung folgen; ſondern auch zuweilen mitten
in einer Begebenheit etwas nachholen, was lange zuvor ge-
ſchehen iſt: wie Virgil mit der Eroberung der Stadt Troja
gemacht,hat. Die Laͤnge der Erzehlung in einem Helden-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/586>, abgerufen am 22.11.2024.
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