Sie schienen, ihm des Nachts den besten Schlaf zu stören: Das hab ich dich sehr oft vom Vater sagen hören. Dies ist die schöne Bahn, die dich, Geliebter! trägt, Darauf du schon vorlängst die Proben abgelegt, Die dir bey aller Welt, in öffentlichen Schrifften, Doch ohne Prahlerey, ein stetes Denckmahl stifften. Jedoch, du fährest fort. Gantz Leipzig merckt es schon, Dein theurer Vater sieht sein Bild in seinem Sohn, Er siehts, und freuet sich, und wird in kurtzen Jahren, Noch mehr Vergnügungen von deinem Fleiß erfahren.
Ach werthgeschätzter Freund! wie freudig will ich seyn, Trifft nur mein treuer Wunsch von deiner Wohlfahrt ein: Und kan ich nur die Pracht von deinen Ehren-Zweigen, Einst in der Nähe sehn, und meine Lust bezeigen.
Das neunte Capitel Von der Epopee oder dem Helden- Gedichte.
NUnmehro kommen wir an das rechte Haupt-Werck und Meister-Stück der gantzen Poesie, ich meyne die Epopee oder das Helden-Gedichte. Homerus ist der allererste, der dergleichen Werck unternommen, und mit solchem Glücke, oder vielmehr mit solcher Geschicklich- keit ausgeführet hat; daß er bis auf den heutigen Tag den Beyfall aller Verständigen verdienet hat, und allen seinen Nachfolgern zum Muster vorgeleget wird. So groß die Menge der Poeten unter Griechen und Lateinern, Jtaliä- nern, Frantzosen, Engelländern und Deutschen gewesen: So klein ist nichts destoweniger die Anzahl derer gewesen, die sich gewagt, ein solches Helden-Gedichte zu schreiben. Und unter zehn oder zwölfen, die etwa innerhalb drey tausend Jahren solches versuchet, ist es kaum fünfen oder sechsen da- mit gelungen: daraus denn die Schwierigkeit eines so wich- tigen poetischen Werckes, sattsam erhellen kan.
Homer ist also der Vater und erste Erfinder dieses Ge- dichtes, und folglich ein recht grosser Geist, ein Mann von be- sondrer Fähigkeit gewesen. Seine Jlias und Odyssee ha-
ben
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Sie ſchienen, ihm des Nachts den beſten Schlaf zu ſtoͤren: Das hab ich dich ſehr oft vom Vater ſagen hoͤren. Dies iſt die ſchoͤne Bahn, die dich, Geliebter! traͤgt, Darauf du ſchon vorlaͤngſt die Proben abgelegt, Die dir bey aller Welt, in oͤffentlichen Schrifften, Doch ohne Prahlerey, ein ſtetes Denckmahl ſtifften. Jedoch, du faͤhreſt fort. Gantz Leipzig merckt es ſchon, Dein theurer Vater ſieht ſein Bild in ſeinem Sohn, Er ſiehts, und freuet ſich, und wird in kurtzen Jahren, Noch mehr Vergnuͤgungen von deinem Fleiß erfahren.
Ach werthgeſchaͤtzter Freund! wie freudig will ich ſeyn, Trifft nur mein treuer Wunſch von deiner Wohlfahrt ein: Und kan ich nur die Pracht von deinen Ehren-Zweigen, Einſt in der Naͤhe ſehn, und meine Luſt bezeigen.
Das neunte Capitel Von der Epopee oder dem Helden- Gedichte.
NUnmehro kommen wir an das rechte Haupt-Werck und Meiſter-Stuͤck der gantzen Poeſie, ich meyne die Epopee oder das Helden-Gedichte. Homerus iſt der allererſte, der dergleichen Werck unternommen, und mit ſolchem Gluͤcke, oder vielmehr mit ſolcher Geſchicklich- keit ausgefuͤhret hat; daß er bis auf den heutigen Tag den Beyfall aller Verſtaͤndigen verdienet hat, und allen ſeinen Nachfolgern zum Muſter vorgeleget wird. So groß die Menge der Poeten unter Griechen und Lateinern, Jtaliaͤ- nern, Frantzoſen, Engellaͤndern und Deutſchen geweſen: So klein iſt nichts deſtoweniger die Anzahl derer geweſen, die ſich gewagt, ein ſolches Helden-Gedichte zu ſchreiben. Und unter zehn oder zwoͤlfen, die etwa innerhalb drey tauſend Jahren ſolches verſuchet, iſt es kaum fuͤnfen oder ſechſen da- mit gelungen: daraus denn die Schwierigkeit eines ſo wich- tigen poetiſchen Werckes, ſattſam erhellen kan.
Homer iſt alſo der Vater und erſte Erfinder dieſes Ge- dichtes, und folglich ein recht groſſer Geiſt, ein Mann von be- ſondrer Faͤhigkeit geweſen. Seine Jlias und Odyſſee ha-
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Sie ſchienen, ihm des Nachts den beſten Schlaf zu ſtoͤren:
Das hab ich dich ſehr oft vom Vater ſagen hoͤren.
Dies iſt die ſchoͤne Bahn, die dich, Geliebter! traͤgt,
Darauf du ſchon vorlaͤngſt die Proben abgelegt,
Die dir bey aller Welt, in oͤffentlichen Schrifften,
Doch ohne Prahlerey, ein ſtetes Denckmahl ſtifften.
Jedoch, du faͤhreſt fort. Gantz Leipzig merckt es ſchon,
Dein theurer Vater ſieht ſein Bild in ſeinem Sohn,
Er ſiehts, und freuet ſich, und wird in kurtzen Jahren,
Noch mehr Vergnuͤgungen von deinem Fleiß erfahren.
Ach werthgeſchaͤtzter Freund! wie freudig will ich ſeyn,
Trifft nur mein treuer Wunſch von deiner Wohlfahrt ein:
Und kan ich nur die Pracht von deinen Ehren-Zweigen,
Einſt in der Naͤhe ſehn, und meine Luſt bezeigen.
Das neunte Capitel
Von der Epopee oder dem Helden-
Gedichte.
NUnmehro kommen wir an das rechte Haupt-Werck
und Meiſter-Stuͤck der gantzen Poeſie, ich meyne
die Epopee oder das Helden-Gedichte. Homerus
iſt der allererſte, der dergleichen Werck unternommen, und
mit ſolchem Gluͤcke, oder vielmehr mit ſolcher Geſchicklich-
keit ausgefuͤhret hat; daß er bis auf den heutigen Tag den
Beyfall aller Verſtaͤndigen verdienet hat, und allen ſeinen
Nachfolgern zum Muſter vorgeleget wird. So groß die
Menge der Poeten unter Griechen und Lateinern, Jtaliaͤ-
nern, Frantzoſen, Engellaͤndern und Deutſchen geweſen:
So klein iſt nichts deſtoweniger die Anzahl derer geweſen, die
ſich gewagt, ein ſolches Helden-Gedichte zu ſchreiben. Und
unter zehn oder zwoͤlfen, die etwa innerhalb drey tauſend
Jahren ſolches verſuchet, iſt es kaum fuͤnfen oder ſechſen da-
mit gelungen: daraus denn die Schwierigkeit eines ſo wich-
tigen poetiſchen Werckes, ſattſam erhellen kan.
Homer iſt alſo der Vater und erſte Erfinder dieſes Ge-
dichtes, und folglich ein recht groſſer Geiſt, ein Mann von be-
ſondrer Faͤhigkeit geweſen. Seine Jlias und Odyſſee ha-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/565>, abgerufen am 22.11.2024.
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