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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Satiren.
Du sprichst: Wer kan davor, daß du nicht klüger bist?
Gut! zeige mir den Mann, der hierinn besser ist;
Der die Begierden zähmt, der stets nach Regeln wandelt,
Jn allem, was er thut, nach strenger Tugend handelt,
Nichts wünschet und verlangt als was ihm wiederfährt,
Jn keinem Unfall murrt, sich nicht vor Gram verzehrt,
Die arme Tugend ehrt, das reiche Laster hasset,
Sich selbst und andern nützt, nicht geitzet auch nicht prasset,
Dem Feinde gutes thut, sein Wort gleich Eyden schätzt,
Verläumder niemahls hört, die Unschuld nie verletzt,
Nicht schmeichelt, niemahls lügt, die Großen nie beneidet,
Sich weder gar zu schlecht, noch gar zu prächtig kleidet,
Nicht stoltz in Kutschen fährt und allen schuldig bleibt,
Die Stadt regieren soll und Kinderpossen treibt;
Nicht seines Nachbars Weib, die sich wie Phryne schmücket,
Von geiler Lust empört, an Mund und Brust gedrücket;
Und hundert andres mehr. Ja, zeige mir den Mann,
An dem ich überall ein Beyspiel nehmen kan:
So will ich meinen Satz sogleich zurücke ziehen,
Und nur mein eigen Hertz als Gifft und Seuchen fliehen.
Wiewohl, mich dünckt du siehst, du siehst und merckst vielleicht,
Was Welt und Menschen sind. Drum sage was dich deucht:
Jch ließe hertzlich gern die Welt vernünftig bleiben,
Könnt ich nur die Vernunft nach ihrer Art beschreiben.
Heist das vernünftig seyn? wenn wir zuweilen blind
Der Tugend zugethan, des Lasters Feinde sind;
Selbst schelten, was wir thun, das loben, was wir haffen,
An Regeln fruchtbar sind, die Thaten unterlassen.
Heißt das vernünftig seyn? wenn uns der Zwang nur hält,
Daß man nicht offenbar in Laster-Pfützen fällt;
Aus Scham den Tag verschont, mit Frevel zu beflecken,
Und sich das Dunckle wehlt, die Schande zu verstecken.
Heißt das vernünftig seyn? wenn man nach Gütern strebt,
So reich als Crösus ist, so arm als Jrus lebt,
Das Armuth erst betrügt, den Bettlern auszuspenden,
Bey Groschen sparsam ist, um Thaler zu verschwenden.
Heißt das vernünftig seyn? wenn wir nach Titeln sehn,
Und den, der sie verdient, nur nicht erlangt, verschmähn.
Wenn man die Jugend schon in aller Thorheit übet,
Und seinem Hause selbst der Bosheit Muster giebet.
Heißt das vernünftig seyn? wenn ein verkehrt Gebet
Um das, was Schaden bringt, zum höchsten Wesen fleht;
Und seine Weisheit lehrt nach unserm tollen Tichten,
Die Fügung seines Raths und Willens einzurichten.
Heißt
Von Satiren.
Du ſprichſt: Wer kan davor, daß du nicht kluͤger biſt?
Gut! zeige mir den Mann, der hierinn beſſer iſt;
Der die Begierden zaͤhmt, der ſtets nach Regeln wandelt,
Jn allem, was er thut, nach ſtrenger Tugend handelt,
Nichts wuͤnſchet und verlangt als was ihm wiederfaͤhrt,
Jn keinem Unfall murrt, ſich nicht vor Gram verzehrt,
Die arme Tugend ehrt, das reiche Laſter haſſet,
Sich ſelbſt und andern nuͤtzt, nicht geitzet auch nicht praſſet,
Dem Feinde gutes thut, ſein Wort gleich Eyden ſchaͤtzt,
Verlaͤumder niemahls hoͤrt, die Unſchuld nie verletzt,
Nicht ſchmeichelt, niemahls luͤgt, die Großen nie beneidet,
Sich weder gar zu ſchlecht, noch gar zu praͤchtig kleidet,
Nicht ſtoltz in Kutſchen faͤhrt und allen ſchuldig bleibt,
Die Stadt regieren ſoll und Kinderpoſſen treibt;
Nicht ſeines Nachbars Weib, die ſich wie Phryne ſchmuͤcket,
Von geiler Luſt empoͤrt, an Mund und Bruſt gedruͤcket;
Und hundert andres mehr. Ja, zeige mir den Mann,
An dem ich uͤberall ein Beyſpiel nehmen kan:
So will ich meinen Satz ſogleich zuruͤcke ziehen,
Und nur mein eigen Hertz als Gifft und Seuchen fliehen.
Wiewohl, mich duͤnckt du ſiehſt, du ſiehſt und merckſt vielleicht,
Was Welt und Menſchen ſind. Drum ſage was dich deucht:
Jch ließe hertzlich gern die Welt vernuͤnftig bleiben,
Koͤnnt ich nur die Vernunft nach ihrer Art beſchreiben.
Heiſt das vernuͤnftig ſeyn? wenn wir zuweilen blind
Der Tugend zugethan, des Laſters Feinde ſind;
Selbſt ſchelten, was wir thun, das loben, was wir haffen,
An Regeln fruchtbar ſind, die Thaten unterlaſſen.
Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn uns der Zwang nur haͤlt,
Daß man nicht offenbar in Laſter-Pfuͤtzen faͤllt;
Aus Scham den Tag verſchont, mit Frevel zu beflecken,
Und ſich das Dunckle wehlt, die Schande zu verſtecken.
Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn man nach Guͤtern ſtrebt,
So reich als Croͤſus iſt, ſo arm als Jrus lebt,
Das Armuth erſt betruͤgt, den Bettlern auszuſpenden,
Bey Groſchen ſparſam iſt, um Thaler zu verſchwenden.
Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn wir nach Titeln ſehn,
Und den, der ſie verdient, nur nicht erlangt, verſchmaͤhn.
Wenn man die Jugend ſchon in aller Thorheit uͤbet,
Und ſeinem Hauſe ſelbſt der Bosheit Muſter giebet.
Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn ein verkehrt Gebet
Um das, was Schaden bringt, zum hoͤchſten Weſen fleht;
Und ſeine Weisheit lehrt nach unſerm tollen Tichten,
Die Fuͤgung ſeines Raths und Willens einzurichten.
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[475/0503] Von Satiren. Du ſprichſt: Wer kan davor, daß du nicht kluͤger biſt? Gut! zeige mir den Mann, der hierinn beſſer iſt; Der die Begierden zaͤhmt, der ſtets nach Regeln wandelt, Jn allem, was er thut, nach ſtrenger Tugend handelt, Nichts wuͤnſchet und verlangt als was ihm wiederfaͤhrt, Jn keinem Unfall murrt, ſich nicht vor Gram verzehrt, Die arme Tugend ehrt, das reiche Laſter haſſet, Sich ſelbſt und andern nuͤtzt, nicht geitzet auch nicht praſſet, Dem Feinde gutes thut, ſein Wort gleich Eyden ſchaͤtzt, Verlaͤumder niemahls hoͤrt, die Unſchuld nie verletzt, Nicht ſchmeichelt, niemahls luͤgt, die Großen nie beneidet, Sich weder gar zu ſchlecht, noch gar zu praͤchtig kleidet, Nicht ſtoltz in Kutſchen faͤhrt und allen ſchuldig bleibt, Die Stadt regieren ſoll und Kinderpoſſen treibt; Nicht ſeines Nachbars Weib, die ſich wie Phryne ſchmuͤcket, Von geiler Luſt empoͤrt, an Mund und Bruſt gedruͤcket; Und hundert andres mehr. Ja, zeige mir den Mann, An dem ich uͤberall ein Beyſpiel nehmen kan: So will ich meinen Satz ſogleich zuruͤcke ziehen, Und nur mein eigen Hertz als Gifft und Seuchen fliehen. Wiewohl, mich duͤnckt du ſiehſt, du ſiehſt und merckſt vielleicht, Was Welt und Menſchen ſind. Drum ſage was dich deucht: Jch ließe hertzlich gern die Welt vernuͤnftig bleiben, Koͤnnt ich nur die Vernunft nach ihrer Art beſchreiben. Heiſt das vernuͤnftig ſeyn? wenn wir zuweilen blind Der Tugend zugethan, des Laſters Feinde ſind; Selbſt ſchelten, was wir thun, das loben, was wir haffen, An Regeln fruchtbar ſind, die Thaten unterlaſſen. Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn uns der Zwang nur haͤlt, Daß man nicht offenbar in Laſter-Pfuͤtzen faͤllt; Aus Scham den Tag verſchont, mit Frevel zu beflecken, Und ſich das Dunckle wehlt, die Schande zu verſtecken. Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn man nach Guͤtern ſtrebt, So reich als Croͤſus iſt, ſo arm als Jrus lebt, Das Armuth erſt betruͤgt, den Bettlern auszuſpenden, Bey Groſchen ſparſam iſt, um Thaler zu verſchwenden. Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn wir nach Titeln ſehn, Und den, der ſie verdient, nur nicht erlangt, verſchmaͤhn. Wenn man die Jugend ſchon in aller Thorheit uͤbet, Und ſeinem Hauſe ſelbſt der Bosheit Muſter giebet. Heißt das vernuͤnftig ſeyn? wenn ein verkehrt Gebet Um das, was Schaden bringt, zum hoͤchſten Weſen fleht; Und ſeine Weisheit lehrt nach unſerm tollen Tichten, Die Fuͤgung ſeines Raths und Willens einzurichten. Heißt

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/503>, abgerufen am 26.11.2024.