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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Satiren.

Durchsuchet jedes Reich und prüfet jeden Staat,
Nehmt Bürger, Adel, Hof, ja Bauer und Soldat,
Die Hochbetitelten, Gelehrten und Pedanten,
Vom allerweisesten bis auf den Jgnoranten,
Den reichen Handelsmann, und armer Künstler Zunft,
Und saget mir hernach, was spürt ihr vor Vernunft?
Mich dünckt, ihr werdet mir am Ende selbst gestehen,
Die Fackeln fiengen an zu zeitig auszugehen.

Was, wirft hie mancher ein, den dieser Satz erschreckt:
Hast du noch keine Spur der Menschlichkeit entdeckt?
So bist du selbst ein Narr, der uns nur Thoren nennet,
Und doch aus blindem Stoltz den eignen Wurm nicht kennet.
Freund, übereilt euch nicht. Jch weiß, ich bin ein Thor.
Die Weisheit hielte mir vorlängst den Spiegel vor,
Und lehrte mich zuerst in meinen eignen Wercken,
Auf allen Ubelstand auf alle Mängel mercken.
Je mehr ich mich nun selbst in schnöder Thorheit fand,
Je mehr ward mir dadurch der andern Pest bekannt:
Und desto billiger darf ich den Griffel schärfen,
Was mir und euch gebricht, mit Eifer zu entwerfen.
Als mich die Kindheit noch in Wieg und Windeln schloß,
Und mein noch zarter Mund nur Muttermilch genoß,
War alles, was ich that, ein Lächeln oder Weinen:
Was konnte nun bey mir wohl vor Vernunft erscheinen?
Vielleicht hat sich bereits die Ungedult geregt,
Wenn mich die Amme nicht nach meinem Sinn gepflegt.
Vielleicht ist mir bereits die Rachgier angekommen;
Wenn man mir allzufrüh die süße Brust genommen.
Weit stärcker zeigte sich des schwachen Geistes Art,
Als Fuß und Schritt gewiß, die Zunge schwatzhafft ward.
Jch äffte thöricht nach, was Thoren mir gewiesen,
Und lobt und that mit Lust was mir ein Narr gepriesen.
Jch haßte Zucht und Fleiß und liebte Müßiggang,
Bey Büchern wurden mir die Stunden Tage lang,
Und vor ein eitles Spiel hätt ich mein halbes Leben,
Ja Vater, Mutter, Haus und Haabe hingegeben.
Und hätte man mir nicht durch Härtigkeit und Glimpf,
Durch Strafe, Lohn, Verweiß, Ernst, Güte, Lob und Schimpf,
Das Gute beygebracht, der Lüste Schwarm gestöret;
Mein GOtt, wie hätten sie sich nach der Zeit empöret!
Wie mächtig würde nicht die Thorheit worden seyn,
Als Muth und Alter wuchs, und selbst der Freyheit Schein,
Auf hohen Schulen mir der Eltern Aufsicht raubte,
Und alles zugestund, was mir mein Hertz erlaubte.
Dem
G g 5

Von Satiren.

Durchſuchet jedes Reich und pruͤfet jeden Staat,
Nehmt Buͤrger, Adel, Hof, ja Bauer und Soldat,
Die Hochbetitelten, Gelehrten und Pedanten,
Vom allerweiſeſten bis auf den Jgnoranten,
Den reichen Handelsmann, und armer Kuͤnſtler Zunft,
Und ſaget mir hernach, was ſpuͤrt ihr vor Vernunft?
Mich duͤnckt, ihr werdet mir am Ende ſelbſt geſtehen,
Die Fackeln fiengen an zu zeitig auszugehen.

Was, wirft hie mancher ein, den dieſer Satz erſchreckt:
Haſt du noch keine Spur der Menſchlichkeit entdeckt?
So biſt du ſelbſt ein Narr, der uns nur Thoren nennet,
Und doch aus blindem Stoltz den eignen Wurm nicht kennet.
Freund, uͤbereilt euch nicht. Jch weiß, ich bin ein Thor.
Die Weisheit hielte mir vorlaͤngſt den Spiegel vor,
Und lehrte mich zuerſt in meinen eignen Wercken,
Auf allen Ubelſtand auf alle Maͤngel mercken.
Je mehr ich mich nun ſelbſt in ſchnoͤder Thorheit fand,
Je mehr ward mir dadurch der andern Peſt bekannt:
Und deſto billiger darf ich den Griffel ſchaͤrfen,
Was mir und euch gebricht, mit Eifer zu entwerfen.
Als mich die Kindheit noch in Wieg und Windeln ſchloß,
Und mein noch zarter Mund nur Muttermilch genoß,
War alles, was ich that, ein Laͤcheln oder Weinen:
Was konnte nun bey mir wohl vor Vernunft erſcheinen?
Vielleicht hat ſich bereits die Ungedult geregt,
Wenn mich die Amme nicht nach meinem Sinn gepflegt.
Vielleicht iſt mir bereits die Rachgier angekommen;
Wenn man mir allzufruͤh die ſuͤße Bruſt genommen.
Weit ſtaͤrcker zeigte ſich des ſchwachen Geiſtes Art,
Als Fuß und Schritt gewiß, die Zunge ſchwatzhafft ward.
Jch aͤffte thoͤricht nach, was Thoren mir gewieſen,
Und lobt und that mit Luſt was mir ein Narr geprieſen.
Jch haßte Zucht und Fleiß und liebte Muͤßiggang,
Bey Buͤchern wurden mir die Stunden Tage lang,
Und vor ein eitles Spiel haͤtt ich mein halbes Leben,
Ja Vater, Mutter, Haus und Haabe hingegeben.
Und haͤtte man mir nicht durch Haͤrtigkeit und Glimpf,
Durch Strafe, Lohn, Verweiß, Ernſt, Guͤte, Lob und Schimpf,
Das Gute beygebracht, der Luͤſte Schwarm geſtoͤret;
Mein GOtt, wie haͤtten ſie ſich nach der Zeit empoͤret!
Wie maͤchtig wuͤrde nicht die Thorheit worden ſeyn,
Als Muth und Alter wuchs, und ſelbſt der Freyheit Schein,
Auf hohen Schulen mir der Eltern Aufſicht raubte,
Und alles zugeſtund, was mir mein Hertz erlaubte.
Dem
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[473/0501] Von Satiren. Durchſuchet jedes Reich und pruͤfet jeden Staat, Nehmt Buͤrger, Adel, Hof, ja Bauer und Soldat, Die Hochbetitelten, Gelehrten und Pedanten, Vom allerweiſeſten bis auf den Jgnoranten, Den reichen Handelsmann, und armer Kuͤnſtler Zunft, Und ſaget mir hernach, was ſpuͤrt ihr vor Vernunft? Mich duͤnckt, ihr werdet mir am Ende ſelbſt geſtehen, Die Fackeln fiengen an zu zeitig auszugehen. Was, wirft hie mancher ein, den dieſer Satz erſchreckt: Haſt du noch keine Spur der Menſchlichkeit entdeckt? So biſt du ſelbſt ein Narr, der uns nur Thoren nennet, Und doch aus blindem Stoltz den eignen Wurm nicht kennet. Freund, uͤbereilt euch nicht. Jch weiß, ich bin ein Thor. Die Weisheit hielte mir vorlaͤngſt den Spiegel vor, Und lehrte mich zuerſt in meinen eignen Wercken, Auf allen Ubelſtand auf alle Maͤngel mercken. Je mehr ich mich nun ſelbſt in ſchnoͤder Thorheit fand, Je mehr ward mir dadurch der andern Peſt bekannt: Und deſto billiger darf ich den Griffel ſchaͤrfen, Was mir und euch gebricht, mit Eifer zu entwerfen. Als mich die Kindheit noch in Wieg und Windeln ſchloß, Und mein noch zarter Mund nur Muttermilch genoß, War alles, was ich that, ein Laͤcheln oder Weinen: Was konnte nun bey mir wohl vor Vernunft erſcheinen? Vielleicht hat ſich bereits die Ungedult geregt, Wenn mich die Amme nicht nach meinem Sinn gepflegt. Vielleicht iſt mir bereits die Rachgier angekommen; Wenn man mir allzufruͤh die ſuͤße Bruſt genommen. Weit ſtaͤrcker zeigte ſich des ſchwachen Geiſtes Art, Als Fuß und Schritt gewiß, die Zunge ſchwatzhafft ward. Jch aͤffte thoͤricht nach, was Thoren mir gewieſen, Und lobt und that mit Luſt was mir ein Narr geprieſen. Jch haßte Zucht und Fleiß und liebte Muͤßiggang, Bey Buͤchern wurden mir die Stunden Tage lang, Und vor ein eitles Spiel haͤtt ich mein halbes Leben, Ja Vater, Mutter, Haus und Haabe hingegeben. Und haͤtte man mir nicht durch Haͤrtigkeit und Glimpf, Durch Strafe, Lohn, Verweiß, Ernſt, Guͤte, Lob und Schimpf, Das Gute beygebracht, der Luͤſte Schwarm geſtoͤret; Mein GOtt, wie haͤtten ſie ſich nach der Zeit empoͤret! Wie maͤchtig wuͤrde nicht die Thorheit worden ſeyn, Als Muth und Alter wuchs, und ſelbſt der Freyheit Schein, Auf hohen Schulen mir der Eltern Aufſicht raubte, Und alles zugeſtund, was mir mein Hertz erlaubte. Dem G g 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/501>, abgerufen am 22.11.2024.