Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Man fange kein Gedicht so stolz und schwülstig an, Als jenes Stümpers Kiel aus Unverstand gethan: 167 169 173 175 Jch beln schon bekannt sind, Characterisiren solle; nehmlich so wie sie von den Alten beschrieben worden: Jtzo zeigt er, wie man die Charactere der Personen in neuen Fabeln bilden solle; nehmlich nicht wiedersinnisch, sondern gleichförmig mit sich selbst. Ein Stolzer muß sich stolz, ein Furchtsamer furchtsam, ein Geiziger geizig bezeigen; und bis ans Ende der Fabel so bleiben. Dieses ist nichts leichtes. 167 Jn neue Verße. Die Jlias Homeri hat zu vielen Tragödien Anlaß ge- geben, obwohl Aristoteles sagt, daß nicht mehr als eine oder höchstens zwey daraus gemacht werden können. Man hatte aber nur Gelegenheit davon genommen, und viel dazu gedichtet, welches denn dem Poeten allezeit erlaubt gewesen. Dieses räth uns der Poet, als was leichtes. Des Tasso befreytes Jerusalem hat gleich- falls viel Tragödien veranlasset. 169 Bekannten Sachen. Die alten Gedichte der Griechen, die in jedermanns Händen waren. Von einem Helden können viel Tragödien gemacht werden, ja von derselben Handlung eines Helden. Z. E. Oedipus ist vom Sophocles, Cor- neille und Voltaire, Sophonisbe von Corneille Mairet und Lohenstein beschrieben, aber alle haben die Fabel anders gemacht. 173 Vertieft sich. Die Nachahmung alter Fabeln muß mit Verstande ge- schehen. Nicht alles was man von gewissen Personen findet, läßt sich auf der Schaubühne vorstellen: denn die Regeln der Schauspiele, sind gantz anders, als die Regeln des Helden-Gedichtes. Wer nun über der Nachahmung seine Absicht vergäße, der würde mitten im Gedichte stecken bleiben, weil er bald sehen würde, daß es sich nicht ausführen liesse. 175 Kein Gedicht. Nun scheint Horatz aufs Helden-Gedicht zu kommen. Er tadelt die prahlerischen Anfänge derselben; und führt das Exempel des Mävius an, der den gantzen Lebens-Lauf Priams in ein Gedichte gebracht hatte; weswegen er ihn Scriptorem cyclicum nennet. Statius ist auch ein solcher cyclicus Scriptor, weil er den gantzen Lebenslauf Achillis beschrieben; und hat es ungeachtet dieser Regel Horatii, die ihm nicht unbekannt seyn konte, doch noch viel ärger gemacht. Er hebt an: Magna- B 3
Man fange kein Gedicht ſo ſtolz und ſchwuͤlſtig an, Als jenes Stuͤmpers Kiel aus Unverſtand gethan: 167 169 173 175 Jch beln ſchon bekannt ſind, Characteriſiren ſolle; nehmlich ſo wie ſie von den Alten beſchrieben worden: Jtzo zeigt er, wie man die Charactere der Perſonen in neuen Fabeln bilden ſolle; nehmlich nicht wiederſinniſch, ſondern gleichfoͤrmig mit ſich ſelbſt. Ein Stolzer muß ſich ſtolz, ein Furchtſamer furchtſam, ein Geiziger geizig bezeigen; und bis ans Ende der Fabel ſo bleiben. Dieſes iſt nichts leichtes. 167 Jn neue Verße. Die Jlias Homeri hat zu vielen Tragoͤdien Anlaß ge- geben, obwohl Ariſtoteles ſagt, daß nicht mehr als eine oder hoͤchſtens zwey daraus gemacht werden koͤnnen. Man hatte aber nur Gelegenheit davon genommen, und viel dazu gedichtet, welches denn dem Poeten allezeit erlaubt geweſen. Dieſes raͤth uns der Poet, als was leichtes. Des Taſſo befreytes Jeruſalem hat gleich- falls viel Tragoͤdien veranlaſſet. 169 Bekannten Sachen. Die alten Gedichte der Griechen, die in jedermanns Haͤnden waren. Von einem Helden koͤnnen viel Tragoͤdien gemacht werden, ja von derſelben Handlung eines Helden. Z. E. Oedipus iſt vom Sophocles, Cor- neille und Voltaire, Sophonisbe von Corneille Mairet und Lohenſtein beſchrieben, aber alle haben die Fabel anders gemacht. 173 Vertieft ſich. Die Nachahmung alter Fabeln muß mit Verſtande ge- ſchehen. Nicht alles was man von gewiſſen Perſonen findet, laͤßt ſich auf der Schaubuͤhne vorſtellen: denn die Regeln der Schauſpiele, ſind gantz anders, als die Regeln des Helden-Gedichtes. Wer nun uͤber der Nachahmung ſeine Abſicht vergaͤße, der wuͤrde mitten im Gedichte ſtecken bleiben, weil er bald ſehen wuͤrde, daß es ſich nicht ausfuͤhren lieſſe. 175 Kein Gedicht. Nun ſcheint Horatz aufs Helden-Gedicht zu kommen. Er tadelt die prahleriſchen Anfaͤnge derſelben; und fuͤhrt das Exempel des Maͤvius an, der den gantzen Lebens-Lauf Priams in ein Gedichte gebracht hatte; weswegen er ihn Scriptorem cyclicum nennet. Statius iſt auch ein ſolcher cyclicus Scriptor, weil er den gantzen Lebenslauf Achillis beſchrieben; und hat es ungeachtet dieſer Regel Horatii, die ihm nicht unbekannt ſeyn konte, doch noch viel aͤrger gemacht. Er hebt an: Magna- B 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="5"> <l> <pb facs="#f0049" n="21"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Und laß ſie mit ſich ſelbſt in allem einig ſeyn.<lb/><note place="left">165</note>Es iſt in Wahrheit ſchwer, was eignes anzufangen,</l><lb/> <l>Du wirſt noch eins ſo leicht im Schreiben Ruhm erlangen,</l><lb/> <l>Wenn du Atridens Zorn in neue Verße ſchreckſt,</l><lb/> <l>Als wenn du ſelbſt zuerſt ein Trauerſpiel erdenckſt.</l><lb/> <l>Es ſteht ja Dichtern frey, ſich aus bekannten Sachen,<lb/><note place="left">170</note>Durch Witz und Kunſt und Fleiß ein Eigenthum zu machen.</l><lb/> <l>Dafern die Feder nur nicht allzu ſclaviſch ſchreibt,</l><lb/> <l>Und Uberſetzern gleich an Worten kleben bleibt.</l><lb/> <l>Ein Thor vertieft ſich da, mit aͤngſtlichem Bemuͤhen,</l><lb/> <l>Wo er ſich endlich ſchaͤmt den Fuß zuruͤck zu ziehen.</l> </lg><lb/> <note place="left">175</note> <lg n="6"> <l>Man fange kein Gedicht ſo ſtolz und ſchwuͤlſtig an,</l><lb/> <l>Als jenes Stuͤmpers Kiel aus Unverſtand gethan:<lb/> <fw place="bottom" type="sig">B 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Jch</hi></fw><lb/><note xml:id="f10" prev="#f09" place="foot" n="162">beln ſchon bekannt ſind, Characteriſiren ſolle; nehmlich ſo wie ſie von den Alten<lb/> beſchrieben worden: Jtzo zeigt er, wie man die Charactere der Perſonen in neuen<lb/> Fabeln bilden ſolle; nehmlich nicht wiederſinniſch, ſondern gleichfoͤrmig mit ſich<lb/> ſelbſt. Ein Stolzer muß ſich ſtolz, ein Furchtſamer furchtſam, ein Geiziger geizig<lb/> bezeigen; und bis ans Ende der Fabel ſo bleiben. Dieſes iſt nichts leichtes.</note><lb/><note place="foot" n="167"><hi rendition="#fr">Jn neue Verße.</hi> Die Jlias Homeri hat zu vielen Tragoͤdien Anlaß ge-<lb/> geben, obwohl Ariſtoteles ſagt, daß nicht mehr als eine oder hoͤchſtens zwey daraus<lb/> gemacht werden koͤnnen. Man hatte aber nur Gelegenheit davon genommen,<lb/> und viel dazu gedichtet, welches denn dem Poeten allezeit erlaubt geweſen. Dieſes<lb/> raͤth uns der Poet, als was leichtes. Des Taſſo befreytes Jeruſalem hat gleich-<lb/> falls viel Tragoͤdien veranlaſſet.</note><lb/><note place="foot" n="169"><hi rendition="#fr">Bekannten Sachen.</hi> Die alten Gedichte der Griechen, die in jedermanns<lb/> Haͤnden waren. Von einem Helden koͤnnen viel Tragoͤdien gemacht werden, ja<lb/> von derſelben Handlung eines Helden. Z. E. Oedipus iſt vom Sophocles, Cor-<lb/> neille und Voltaire, Sophonisbe von Corneille Mairet und Lohenſtein beſchrieben,<lb/> aber alle haben die Fabel anders gemacht.</note><lb/><note place="foot" n="173"><hi rendition="#fr">Vertieft ſich.</hi> Die Nachahmung alter Fabeln muß mit Verſtande ge-<lb/> ſchehen. Nicht alles was man von gewiſſen Perſonen findet, laͤßt ſich auf der<lb/> Schaubuͤhne vorſtellen: denn die Regeln der Schauſpiele, ſind gantz anders, als<lb/> die Regeln des Helden-Gedichtes. Wer nun uͤber der Nachahmung ſeine Abſicht<lb/> vergaͤße, der wuͤrde mitten im Gedichte ſtecken bleiben, weil er bald ſehen wuͤrde,<lb/> daß es ſich nicht ausfuͤhren lieſſe.</note><lb/><note xml:id="f11" next="#f12" place="foot" n="175"><hi rendition="#fr">Kein Gedicht.</hi> Nun ſcheint Horatz aufs Helden-Gedicht zu kommen. Er<lb/> tadelt die prahleriſchen Anfaͤnge derſelben; und fuͤhrt das Exempel des Maͤvius an,<lb/> der den gantzen Lebens-Lauf Priams in ein Gedichte gebracht hatte; weswegen er<lb/> ihn <hi rendition="#aq">Scriptorem cyclicum</hi> nennet. <hi rendition="#aq">Statius</hi> iſt auch ein ſolcher <hi rendition="#aq">cyclicus Scriptor,</hi><lb/> weil er den gantzen Lebenslauf Achillis beſchrieben; und hat es ungeachtet dieſer<lb/> Regel Horatii, die ihm nicht unbekannt ſeyn konte, doch noch viel aͤrger gemacht.<lb/> Er hebt an:<lb/> <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">Magna-</hi></fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0049]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Und laß ſie mit ſich ſelbſt in allem einig ſeyn.
Es iſt in Wahrheit ſchwer, was eignes anzufangen,
Du wirſt noch eins ſo leicht im Schreiben Ruhm erlangen,
Wenn du Atridens Zorn in neue Verße ſchreckſt,
Als wenn du ſelbſt zuerſt ein Trauerſpiel erdenckſt.
Es ſteht ja Dichtern frey, ſich aus bekannten Sachen,
Durch Witz und Kunſt und Fleiß ein Eigenthum zu machen.
Dafern die Feder nur nicht allzu ſclaviſch ſchreibt,
Und Uberſetzern gleich an Worten kleben bleibt.
Ein Thor vertieft ſich da, mit aͤngſtlichem Bemuͤhen,
Wo er ſich endlich ſchaͤmt den Fuß zuruͤck zu ziehen.
Man fange kein Gedicht ſo ſtolz und ſchwuͤlſtig an,
Als jenes Stuͤmpers Kiel aus Unverſtand gethan:
Jch
162
167
169
173
175
162 beln ſchon bekannt ſind, Characteriſiren ſolle; nehmlich ſo wie ſie von den Alten
beſchrieben worden: Jtzo zeigt er, wie man die Charactere der Perſonen in neuen
Fabeln bilden ſolle; nehmlich nicht wiederſinniſch, ſondern gleichfoͤrmig mit ſich
ſelbſt. Ein Stolzer muß ſich ſtolz, ein Furchtſamer furchtſam, ein Geiziger geizig
bezeigen; und bis ans Ende der Fabel ſo bleiben. Dieſes iſt nichts leichtes.
167 Jn neue Verße. Die Jlias Homeri hat zu vielen Tragoͤdien Anlaß ge-
geben, obwohl Ariſtoteles ſagt, daß nicht mehr als eine oder hoͤchſtens zwey daraus
gemacht werden koͤnnen. Man hatte aber nur Gelegenheit davon genommen,
und viel dazu gedichtet, welches denn dem Poeten allezeit erlaubt geweſen. Dieſes
raͤth uns der Poet, als was leichtes. Des Taſſo befreytes Jeruſalem hat gleich-
falls viel Tragoͤdien veranlaſſet.
169 Bekannten Sachen. Die alten Gedichte der Griechen, die in jedermanns
Haͤnden waren. Von einem Helden koͤnnen viel Tragoͤdien gemacht werden, ja
von derſelben Handlung eines Helden. Z. E. Oedipus iſt vom Sophocles, Cor-
neille und Voltaire, Sophonisbe von Corneille Mairet und Lohenſtein beſchrieben,
aber alle haben die Fabel anders gemacht.
173 Vertieft ſich. Die Nachahmung alter Fabeln muß mit Verſtande ge-
ſchehen. Nicht alles was man von gewiſſen Perſonen findet, laͤßt ſich auf der
Schaubuͤhne vorſtellen: denn die Regeln der Schauſpiele, ſind gantz anders, als
die Regeln des Helden-Gedichtes. Wer nun uͤber der Nachahmung ſeine Abſicht
vergaͤße, der wuͤrde mitten im Gedichte ſtecken bleiben, weil er bald ſehen wuͤrde,
daß es ſich nicht ausfuͤhren lieſſe.
175 Kein Gedicht. Nun ſcheint Horatz aufs Helden-Gedicht zu kommen. Er
tadelt die prahleriſchen Anfaͤnge derſelben; und fuͤhrt das Exempel des Maͤvius an,
der den gantzen Lebens-Lauf Priams in ein Gedichte gebracht hatte; weswegen er
ihn Scriptorem cyclicum nennet. Statius iſt auch ein ſolcher cyclicus Scriptor,
weil er den gantzen Lebenslauf Achillis beſchrieben; und hat es ungeachtet dieſer
Regel Horatii, die ihm nicht unbekannt ſeyn konte, doch noch viel aͤrger gemacht.
Er hebt an:
Magna-
B 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |