Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Des II. Theils VI. Capitel
wollen, und ist zuweilen nicht übel gefahren: Allein Gün-
ther hat ihn weit, weit hinter sich gelassen. Wäre dieser
hitzige und aufgeweckte Geist zu einem reifern Alter gekom-
men, so würde er alle unsere übrige Satirenschreiber ver-
dunckelt haben: Jtzo aber, da er so jung geeifert, so ist es
kein Wunder, daß sein wildes und flüchtiges Feuer von
B. Neukirchs männlichem und gesetztem Wesen übertroffen
worden. Wir haben zwar in seinen Ubersetzungen aus
dem Boileau, in den Hofmannswaldauischeu Gedichten
längst Proben seiner satirischen Gabe gesehen: Allein von
seiner eigenen Arbeit stehen in den Hanckischen Gedichten
etliche unverbesserliche Stücke, die billig einen jeden schüch-
tern machen können, sich künftig auf diese Bahn zu wagen.

Nach dieser kurtzen Historie der Satire wird es leicht
seyn, eine Beschreibung derselben zu geben. Sie ist nehm-
lich ein moralisches Strafgedichte über einreissende Laster,
darinn entweder das lächerliche derselben entdecket, oder
das abscheuliche Wesen der Bosheit mit lebhafften Farben
abgeschildert wird. Man sehe das obenangezogene IVte
Capitel der Poetic Aristotelis nach, so wird man eben der-
gleichen Beschreibungen davon antreffen. Man kan also
sagen, die Satire sey das Gegentheil von den Lobgedichten,
welche nur die guten und löblichen Thaten der Menschen
abschildern und erheben. Man könnte sie auch den Schä-
fergedichten entgegen setzen, welche den unschuldigen Zu-
stand des güldenen Weltalters abschildern.

Dacier in seinem Tractate von der Satire hält davor,
man müsse den Grund der Satiren in der Christlichen Lehre
von der brüderlichen Bestrafung suchen. Allein vergebens.
Diese hat vieler Behutsamkeit vonnöthen, und man müste
erst allerley Stuffen durchgehen, ehe man bis zu einer so
öffentlichen Beschreibung des Lasters fortschreiten könnte.
Einen ordentlichen Beruf die Sittenlehre zu predigen, und
das Böse zu strafen, hat ein Poet auch nicht: und daher
glauben viele, es stünde den geistlichen Lehrern allein zu,
wieder die öffentlichen Laster zu eifern. Allein auch diese
irren, wenn sie meynen, daß man zu Beförderung des Gu-

ten

Des II. Theils VI. Capitel
wollen, und iſt zuweilen nicht uͤbel gefahren: Allein Guͤn-
ther hat ihn weit, weit hinter ſich gelaſſen. Waͤre dieſer
hitzige und aufgeweckte Geiſt zu einem reifern Alter gekom-
men, ſo wuͤrde er alle unſere uͤbrige Satirenſchreiber ver-
dunckelt haben: Jtzo aber, da er ſo jung geeifert, ſo iſt es
kein Wunder, daß ſein wildes und fluͤchtiges Feuer von
B. Neukirchs maͤnnlichem und geſetztem Weſen uͤbertroffen
worden. Wir haben zwar in ſeinen Uberſetzungen aus
dem Boileau, in den Hofmannswaldauiſcheu Gedichten
laͤngſt Proben ſeiner ſatiriſchen Gabe geſehen: Allein von
ſeiner eigenen Arbeit ſtehen in den Hanckiſchen Gedichten
etliche unverbeſſerliche Stuͤcke, die billig einen jeden ſchuͤch-
tern machen koͤnnen, ſich kuͤnftig auf dieſe Bahn zu wagen.

Nach dieſer kurtzen Hiſtorie der Satire wird es leicht
ſeyn, eine Beſchreibung derſelben zu geben. Sie iſt nehm-
lich ein moraliſches Strafgedichte uͤber einreiſſende Laſter,
darinn entweder das laͤcherliche derſelben entdecket, oder
das abſcheuliche Weſen der Bosheit mit lebhafften Farben
abgeſchildert wird. Man ſehe das obenangezogene IVte
Capitel der Poetic Ariſtotelis nach, ſo wird man eben der-
gleichen Beſchreibungen davon antreffen. Man kan alſo
ſagen, die Satire ſey das Gegentheil von den Lobgedichten,
welche nur die guten und loͤblichen Thaten der Menſchen
abſchildern und erheben. Man koͤnnte ſie auch den Schaͤ-
fergedichten entgegen ſetzen, welche den unſchuldigen Zu-
ſtand des guͤldenen Weltalters abſchildern.

Dacier in ſeinem Tractate von der Satire haͤlt davor,
man muͤſſe den Grund der Satiren in der Chriſtlichen Lehre
von der bruͤderlichen Beſtrafung ſuchen. Allein vergebens.
Dieſe hat vieler Behutſamkeit vonnoͤthen, und man muͤſte
erſt allerley Stuffen durchgehen, ehe man bis zu einer ſo
oͤffentlichen Beſchreibung des Laſters fortſchreiten koͤnnte.
Einen ordentlichen Beruf die Sittenlehre zu predigen, und
das Boͤſe zu ſtrafen, hat ein Poet auch nicht: und daher
glauben viele, es ſtuͤnde den geiſtlichen Lehrern allein zu,
wieder die oͤffentlichen Laſter zu eifern. Allein auch dieſe
irren, wenn ſie meynen, daß man zu Befoͤrderung des Gu-

ten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0488" n="460"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II.</hi> Theils <hi rendition="#aq">VI.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
wollen, und i&#x017F;t zuweilen nicht u&#x0364;bel gefahren: Allein Gu&#x0364;n-<lb/>
ther hat ihn weit, weit hinter &#x017F;ich gela&#x017F;&#x017F;en. Wa&#x0364;re die&#x017F;er<lb/>
hitzige und aufgeweckte Gei&#x017F;t zu einem reifern Alter gekom-<lb/>
men, &#x017F;o wu&#x0364;rde er alle un&#x017F;ere u&#x0364;brige Satiren&#x017F;chreiber ver-<lb/>
dunckelt haben: Jtzo aber, da er &#x017F;o jung geeifert, &#x017F;o i&#x017F;t es<lb/>
kein Wunder, daß &#x017F;ein wildes und flu&#x0364;chtiges Feuer von<lb/>
B. Neukirchs ma&#x0364;nnlichem und ge&#x017F;etztem We&#x017F;en u&#x0364;bertroffen<lb/>
worden. Wir haben zwar in &#x017F;einen Uber&#x017F;etzungen aus<lb/>
dem Boileau, in den Hofmannswaldaui&#x017F;cheu Gedichten<lb/>
la&#x0364;ng&#x017F;t Proben &#x017F;einer &#x017F;atiri&#x017F;chen Gabe ge&#x017F;ehen: Allein von<lb/>
&#x017F;einer eigenen Arbeit &#x017F;tehen in den Hancki&#x017F;chen Gedichten<lb/>
etliche unverbe&#x017F;&#x017F;erliche Stu&#x0364;cke, die billig einen jeden &#x017F;chu&#x0364;ch-<lb/>
tern machen ko&#x0364;nnen, &#x017F;ich ku&#x0364;nftig auf die&#x017F;e Bahn zu wagen.</p><lb/>
          <p>Nach die&#x017F;er kurtzen Hi&#x017F;torie der Satire wird es leicht<lb/>
&#x017F;eyn, eine Be&#x017F;chreibung der&#x017F;elben zu geben. Sie i&#x017F;t nehm-<lb/>
lich ein morali&#x017F;ches Strafgedichte u&#x0364;ber einrei&#x017F;&#x017F;ende La&#x017F;ter,<lb/>
darinn entweder das la&#x0364;cherliche der&#x017F;elben entdecket, oder<lb/>
das ab&#x017F;cheuliche We&#x017F;en der Bosheit mit lebhafften Farben<lb/>
abge&#x017F;childert wird. Man &#x017F;ehe das obenangezogene <hi rendition="#aq">IV</hi>te<lb/>
Capitel der Poetic Ari&#x017F;totelis nach, &#x017F;o wird man eben der-<lb/>
gleichen Be&#x017F;chreibungen davon antreffen. Man kan al&#x017F;o<lb/>
&#x017F;agen, die Satire &#x017F;ey das Gegentheil von den Lobgedichten,<lb/>
welche nur die guten und lo&#x0364;blichen Thaten der Men&#x017F;chen<lb/>
ab&#x017F;childern und erheben. Man ko&#x0364;nnte &#x017F;ie auch den Scha&#x0364;-<lb/>
fergedichten entgegen &#x017F;etzen, welche den un&#x017F;chuldigen Zu-<lb/>
&#x017F;tand des gu&#x0364;ldenen Weltalters ab&#x017F;childern.</p><lb/>
          <p>Dacier in &#x017F;einem Tractate von der Satire ha&#x0364;lt davor,<lb/>
man mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e den Grund der Satiren in der Chri&#x017F;tlichen Lehre<lb/>
von der bru&#x0364;derlichen Be&#x017F;trafung &#x017F;uchen. Allein vergebens.<lb/>
Die&#x017F;e hat vieler Behut&#x017F;amkeit vonno&#x0364;then, und man mu&#x0364;&#x017F;te<lb/>
er&#x017F;t allerley Stuffen durchgehen, ehe man bis zu einer &#x017F;o<lb/>
o&#x0364;ffentlichen Be&#x017F;chreibung des La&#x017F;ters fort&#x017F;chreiten ko&#x0364;nnte.<lb/>
Einen ordentlichen Beruf die Sittenlehre zu predigen, und<lb/>
das Bo&#x0364;&#x017F;e zu &#x017F;trafen, hat ein Poet auch nicht: und daher<lb/>
glauben viele, es &#x017F;tu&#x0364;nde den gei&#x017F;tlichen Lehrern allein zu,<lb/>
wieder die o&#x0364;ffentlichen La&#x017F;ter zu eifern. Allein auch die&#x017F;e<lb/>
irren, wenn &#x017F;ie meynen, daß man zu Befo&#x0364;rderung des Gu-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[460/0488] Des II. Theils VI. Capitel wollen, und iſt zuweilen nicht uͤbel gefahren: Allein Guͤn- ther hat ihn weit, weit hinter ſich gelaſſen. Waͤre dieſer hitzige und aufgeweckte Geiſt zu einem reifern Alter gekom- men, ſo wuͤrde er alle unſere uͤbrige Satirenſchreiber ver- dunckelt haben: Jtzo aber, da er ſo jung geeifert, ſo iſt es kein Wunder, daß ſein wildes und fluͤchtiges Feuer von B. Neukirchs maͤnnlichem und geſetztem Weſen uͤbertroffen worden. Wir haben zwar in ſeinen Uberſetzungen aus dem Boileau, in den Hofmannswaldauiſcheu Gedichten laͤngſt Proben ſeiner ſatiriſchen Gabe geſehen: Allein von ſeiner eigenen Arbeit ſtehen in den Hanckiſchen Gedichten etliche unverbeſſerliche Stuͤcke, die billig einen jeden ſchuͤch- tern machen koͤnnen, ſich kuͤnftig auf dieſe Bahn zu wagen. Nach dieſer kurtzen Hiſtorie der Satire wird es leicht ſeyn, eine Beſchreibung derſelben zu geben. Sie iſt nehm- lich ein moraliſches Strafgedichte uͤber einreiſſende Laſter, darinn entweder das laͤcherliche derſelben entdecket, oder das abſcheuliche Weſen der Bosheit mit lebhafften Farben abgeſchildert wird. Man ſehe das obenangezogene IVte Capitel der Poetic Ariſtotelis nach, ſo wird man eben der- gleichen Beſchreibungen davon antreffen. Man kan alſo ſagen, die Satire ſey das Gegentheil von den Lobgedichten, welche nur die guten und loͤblichen Thaten der Menſchen abſchildern und erheben. Man koͤnnte ſie auch den Schaͤ- fergedichten entgegen ſetzen, welche den unſchuldigen Zu- ſtand des guͤldenen Weltalters abſchildern. Dacier in ſeinem Tractate von der Satire haͤlt davor, man muͤſſe den Grund der Satiren in der Chriſtlichen Lehre von der bruͤderlichen Beſtrafung ſuchen. Allein vergebens. Dieſe hat vieler Behutſamkeit vonnoͤthen, und man muͤſte erſt allerley Stuffen durchgehen, ehe man bis zu einer ſo oͤffentlichen Beſchreibung des Laſters fortſchreiten koͤnnte. Einen ordentlichen Beruf die Sittenlehre zu predigen, und das Boͤſe zu ſtrafen, hat ein Poet auch nicht: und daher glauben viele, es ſtuͤnde den geiſtlichen Lehrern allein zu, wieder die oͤffentlichen Laſter zu eifern. Allein auch dieſe irren, wenn ſie meynen, daß man zu Befoͤrderung des Gu- ten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/488
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/488>, abgerufen am 22.11.2024.