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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils IV Capitel
Denn heißt es: die Natur lehrt selbst die Menschen lieben,
Es liebet Wald und Feld, es liebet Lufft und Flur,
Gevögel, Thier und Fisch ist voll von süssen Trieben:
So kommt und liebet dann und folget der Natur.
Sobald der Sonnen-Strahl den Himmel angezündet,
Die heiße Sommer-Lufft bey langen Tagen sticht,
Und sich die erste Frucht in unsern Gärten findet,
Da zeigt uns Amor auch ein freundlich Angesicht.
Ein heiß verliebtes Paar sitzt in dem kühlen Schatten,
Und labet den Geschmack mit einer süssen Frucht,
Und läßt sich Mund und Mund mit heißen Lippen gatten,
Und lacht offt insgeheim der Buhler Eifersucht.
Erscheint der milde Herbst mit Aepfeln oder Trauben,
Und fällt das falbe Blatt von seinen Zweigen ab,
Denn lehrt uns Amor erst die Liebes-Aepfel rauben,
Und droht den Buhlern gar durch ihr zukünftig Grab.
Liebt, heißt es, weil ihr könnt, und weil die Jugend währet,
Wer weiß, wie bald der Tod die kurtze Lust verbeut.
Liebt, eh des Alters Sturm der Schönheit Schmuck verzehret,
Und wie das gelbe Laub in Staub und Erde streut.
Der Winter kommt herbey. Da sollte mancher dencken,
Die Liebe würde kalt und unempfindlich seyn,
Wenn Zapfen von Crystall sich an die Dächer hencken;
Allein das heiße Blut friert nicht wie Wasser ein.
Je mehr die Kälte tobt, je mehr verliebte Hertzen
Verhüllt ein dichter Peltz, ein wohlgefüttert Kleid,
Man sieht sie desto mehr in warmen Zimmern schertzen,
Jemehr der Frost das Land mit Flocken überstreut.
Du selbst, verliebtes Paar, du selber wirst bekennen,
Daß keine Witterung der Liebe schädlich sey:
Man sieht im Jenner auch die süssen Flammen brennen,
Und also stimmt ihr selbst dem festen Satze bey.
Die Kälte tobte sehr, allein die Glut der Liebe
Nahm bey der strengsten Lufft nur stärcker überhand;
Der rauhe Nordenwind bließ Funcken in die Triebe,
Die man in eurer Brust bereits entzündet fand.
Wohlan! so liebet dann. Die Zeit ist euch gewogen,
Des Winters Schnee und Eis kühlt eure Regung nicht.
Und wenn die lange Nacht den Flor um euch gezogen,
So liebt euch ungestöhrt, bis früh der Tag anbricht.
Wie angenehm wirds seyn des Liebsten Mund zu küssen,
Wenn draussen Wind und Sturm mit scharfem Sausen pfeift,
Tibullus lehrt mich dieß, ich könnt es sonst nicht wissen;
So lange nicht der Arm nach fremden Aepfeln greift.
Sie,
Des II Theils IV Capitel
Denn heißt es: die Natur lehrt ſelbſt die Menſchen lieben,
Es liebet Wald und Feld, es liebet Lufft und Flur,
Gevoͤgel, Thier und Fiſch iſt voll von ſuͤſſen Trieben:
So kommt und liebet dann und folget der Natur.
Sobald der Sonnen-Strahl den Himmel angezuͤndet,
Die heiße Sommer-Lufft bey langen Tagen ſticht,
Und ſich die erſte Frucht in unſern Gaͤrten findet,
Da zeigt uns Amor auch ein freundlich Angeſicht.
Ein heiß verliebtes Paar ſitzt in dem kuͤhlen Schatten,
Und labet den Geſchmack mit einer ſuͤſſen Frucht,
Und laͤßt ſich Mund und Mund mit heißen Lippen gatten,
Und lacht offt insgeheim der Buhler Eiferſucht.
Erſcheint der milde Herbſt mit Aepfeln oder Trauben,
Und faͤllt das falbe Blatt von ſeinen Zweigen ab,
Denn lehrt uns Amor erſt die Liebes-Aepfel rauben,
Und droht den Buhlern gar durch ihr zukuͤnftig Grab.
Liebt, heißt es, weil ihr koͤnnt, und weil die Jugend waͤhret,
Wer weiß, wie bald der Tod die kurtze Luſt verbeut.
Liebt, eh des Alters Sturm der Schoͤnheit Schmuck verzehret,
Und wie das gelbe Laub in Staub und Erde ſtreut.
Der Winter kommt herbey. Da ſollte mancher dencken,
Die Liebe wuͤrde kalt und unempfindlich ſeyn,
Wenn Zapfen von Cryſtall ſich an die Daͤcher hencken;
Allein das heiße Blut friert nicht wie Waſſer ein.
Je mehr die Kaͤlte tobt, je mehr verliebte Hertzen
Verhuͤllt ein dichter Peltz, ein wohlgefuͤttert Kleid,
Man ſieht ſie deſto mehr in warmen Zimmern ſchertzen,
Jemehr der Froſt das Land mit Flocken uͤberſtreut.
Du ſelbſt, verliebtes Paar, du ſelber wirſt bekennen,
Daß keine Witterung der Liebe ſchaͤdlich ſey:
Man ſieht im Jenner auch die ſuͤſſen Flammen brennen,
Und alſo ſtimmt ihr ſelbſt dem feſten Satze bey.
Die Kaͤlte tobte ſehr, allein die Glut der Liebe
Nahm bey der ſtrengſten Lufft nur ſtaͤrcker uͤberhand;
Der rauhe Nordenwind bließ Funcken in die Triebe,
Die man in eurer Bruſt bereits entzuͤndet fand.
Wohlan! ſo liebet dann. Die Zeit iſt euch gewogen,
Des Winters Schnee und Eis kuͤhlt eure Regung nicht.
Und wenn die lange Nacht den Flor um euch gezogen,
So liebt euch ungeſtoͤhrt, bis fruͤh der Tag anbricht.
Wie angenehm wirds ſeyn des Liebſten Mund zu kuͤſſen,
Wenn drauſſen Wind und Sturm mit ſcharfem Sauſen pfeift,
Tibullus lehrt mich dieß, ich koͤnnt es ſonſt nicht wiſſen;
So lange nicht der Arm nach fremden Aepfeln greift.
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[428/0456] Des II Theils IV Capitel Denn heißt es: die Natur lehrt ſelbſt die Menſchen lieben, Es liebet Wald und Feld, es liebet Lufft und Flur, Gevoͤgel, Thier und Fiſch iſt voll von ſuͤſſen Trieben: So kommt und liebet dann und folget der Natur. Sobald der Sonnen-Strahl den Himmel angezuͤndet, Die heiße Sommer-Lufft bey langen Tagen ſticht, Und ſich die erſte Frucht in unſern Gaͤrten findet, Da zeigt uns Amor auch ein freundlich Angeſicht. Ein heiß verliebtes Paar ſitzt in dem kuͤhlen Schatten, Und labet den Geſchmack mit einer ſuͤſſen Frucht, Und laͤßt ſich Mund und Mund mit heißen Lippen gatten, Und lacht offt insgeheim der Buhler Eiferſucht. Erſcheint der milde Herbſt mit Aepfeln oder Trauben, Und faͤllt das falbe Blatt von ſeinen Zweigen ab, Denn lehrt uns Amor erſt die Liebes-Aepfel rauben, Und droht den Buhlern gar durch ihr zukuͤnftig Grab. Liebt, heißt es, weil ihr koͤnnt, und weil die Jugend waͤhret, Wer weiß, wie bald der Tod die kurtze Luſt verbeut. Liebt, eh des Alters Sturm der Schoͤnheit Schmuck verzehret, Und wie das gelbe Laub in Staub und Erde ſtreut. Der Winter kommt herbey. Da ſollte mancher dencken, Die Liebe wuͤrde kalt und unempfindlich ſeyn, Wenn Zapfen von Cryſtall ſich an die Daͤcher hencken; Allein das heiße Blut friert nicht wie Waſſer ein. Je mehr die Kaͤlte tobt, je mehr verliebte Hertzen Verhuͤllt ein dichter Peltz, ein wohlgefuͤttert Kleid, Man ſieht ſie deſto mehr in warmen Zimmern ſchertzen, Jemehr der Froſt das Land mit Flocken uͤberſtreut. Du ſelbſt, verliebtes Paar, du ſelber wirſt bekennen, Daß keine Witterung der Liebe ſchaͤdlich ſey: Man ſieht im Jenner auch die ſuͤſſen Flammen brennen, Und alſo ſtimmt ihr ſelbſt dem feſten Satze bey. Die Kaͤlte tobte ſehr, allein die Glut der Liebe Nahm bey der ſtrengſten Lufft nur ſtaͤrcker uͤberhand; Der rauhe Nordenwind bließ Funcken in die Triebe, Die man in eurer Bruſt bereits entzuͤndet fand. Wohlan! ſo liebet dann. Die Zeit iſt euch gewogen, Des Winters Schnee und Eis kuͤhlt eure Regung nicht. Und wenn die lange Nacht den Flor um euch gezogen, So liebt euch ungeſtoͤhrt, bis fruͤh der Tag anbricht. Wie angenehm wirds ſeyn des Liebſten Mund zu kuͤſſen, Wenn drauſſen Wind und Sturm mit ſcharfem Sauſen pfeift, Tibullus lehrt mich dieß, ich koͤnnt es ſonſt nicht wiſſen; So lange nicht der Arm nach fremden Aepfeln greift. Sie,

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/456>, abgerufen am 02.05.2024.