Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils II Capitel in einer Cantate hören zu lassen, läst man einen Vers, eineinzig Lied, so eigentlich nur eine Person singen sollte, von drey, vier fünf Sängern, die einander ablösen, absingen: Gerade als wenn aus einem Halse alle die verschiedenen Stimmen kommen könnten. Jch tadle hiermit die Componisten nicht, die uns gern durch vielerley Annehmlichkeiten zugleich belusti- gen wollen. Sie sollten nur zu Duetten, das ist zu Cantaten von zwey Personen, die sich mit einander besprechen, zwey Stimmen; zu dreyen, welches denn ein Trio heißt, drey u. s. w. wehlen, und also die Wahrscheinlichkeit beobachten. Sie sollten auch Mannspersonen eine männliche Baß- und Tenor-Stimme geben, den Alt und Discant aber vor weib- liche Personen oder Kinder, die der Poet in dem Verße reden lassen, behalten. Allein wie offt dawieder verstossen wird, darf ich nicht erwehnen: denn es liegt allenthalben am Tage. Sowohl von Arien als Recitativen haben uns viele, als diese
Des II Theils II Capitel in einer Cantate hoͤren zu laſſen, laͤſt man einen Vers, eineinzig Lied, ſo eigentlich nur eine Perſon ſingen ſollte, von drey, vier fuͤnf Saͤngern, die einander abloͤſen, abſingen: Gerade als wenn aus einem Halſe alle die verſchiedenen Stimmen kommen koͤnnten. Jch tadle hiermit die Componiſten nicht, die uns gern durch vielerley Annehmlichkeiten zugleich beluſti- gen wollen. Sie ſollten nur zu Duetten, das iſt zu Cantaten von zwey Perſonen, die ſich mit einander beſprechen, zwey Stimmen; zu dreyen, welches denn ein Trio heißt, drey u. ſ. w. wehlen, und alſo die Wahrſcheinlichkeit beobachten. Sie ſollten auch Mannsperſonen eine maͤnnliche Baß- und Tenor-Stimme geben, den Alt und Diſcant aber vor weib- liche Perſonen oder Kinder, die der Poet in dem Verße reden laſſen, behalten. Allein wie offt dawieder verſtoſſen wird, darf ich nicht erwehnen: denn es liegt allenthalben am Tage. Sowohl von Arien als Recitativen haben uns viele, als dieſe
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Des II Theils II Capitel
in einer Cantate hoͤren zu laſſen, laͤſt man einen Vers, ein
einzig Lied, ſo eigentlich nur eine Perſon ſingen ſollte, von drey,
vier fuͤnf Saͤngern, die einander abloͤſen, abſingen: Gerade
als wenn aus einem Halſe alle die verſchiedenen Stimmen
kommen koͤnnten. Jch tadle hiermit die Componiſten nicht,
die uns gern durch vielerley Annehmlichkeiten zugleich beluſti-
gen wollen. Sie ſollten nur zu Duetten, das iſt zu Cantaten
von zwey Perſonen, die ſich mit einander beſprechen, zwey
Stimmen; zu dreyen, welches denn ein Trio heißt, drey
u. ſ. w. wehlen, und alſo die Wahrſcheinlichkeit beobachten.
Sie ſollten auch Mannsperſonen eine maͤnnliche Baß- und
Tenor-Stimme geben, den Alt und Diſcant aber vor weib-
liche Perſonen oder Kinder, die der Poet in dem Verße reden
laſſen, behalten. Allein wie offt dawieder verſtoſſen wird,
darf ich nicht erwehnen: denn es liegt allenthalben am Tage.
Sowohl von Arien als Recitativen haben uns viele, als
z. E. Menantes in ſeiner Theatraliſchen Poeſie, imgleichen
in der Galanten Poeſie, die er nur ans Licht geſtellet; eine
Menge von Regeln gegeben, und wer weiß was vor Geheim-
niſſe daraus gemacht, die niemand verſtuͤnde als der ein groſſer
Kenner der Muſic waͤre. Alle laufen dahinaus, daß der
Poet ein Sclave des Componiſten ſeyn, und nicht dencken
oder ſagen muͤſſe wie oder was er wolle; ſondern ſo, daß der
Muſicus ſeine Triller und Einfaͤlle recht koͤnne hoͤren laſſen.
Dahin gehoͤrt unter andern hauptſaͤchlich die Regel: daß
man die erſten Zeilen der Arien mit ſolchen Woͤrtern anfuͤllen
muͤſſe, dabey ſich der Componiſt eine halbe Stunde aufhalten
koͤnne, wenn er irgend das Lachen, Weinen, Jauchzen, Aechzen,
Klagen, Heulen, Zittern, Fliehen, Eilen, Raſen, Poltern oder
ſonſt ein Wort von dexgleichen Art auszudruͤcken ſucht. Da-
hin gehoͤrt ferner, daß man die erſten Zeilen einer Arie, ſo viel
moͤglich iſt, ſo einrichten muͤſſe, daß ſie am Ende derſelben
wiederholet werden koͤnne, und alſo eine Art von Ringelrei-
men daraus entſtehe. Dahin gehoͤrts, daß die Recitative,
theils aus kurtzen Zeilen beſtehen, theils an ſich ſelbſt ſehr kurtz
ſeyn ſollen; damit man von dem ſchlaͤfrigen Weſen derſelben
nicht gar zu ſehr verdruͤßlich gemacht werde. u. d. m. Alle
dieſe
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