Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils I Capitel Du armer Jacob, deine Plage Jst unerträglich und zu schwer. Geh, hole nun die Stunden her, Da dir dein Schatz in Armen lage. Gedenck einmahl der süßen Zeit, Da du zuerst ihr Bild erblicket, Da sie zuerst dein Hertz entzücket, Da du dich ihrer Huld erfreut. Da du in zweymahl sieben Jahren Fast stündlich neue Lust erfahren. Ach Schmertzenssohn! Pfand treuer Liebe! Must du der Ursprung meiner Pein, Die Quelle meines Unglücks seyn? Ach daß die Mutter lebend bliebe! Nun will ich meiner Tage Rest Mit lauter Gram und Seufzen schließen; Nun sollen meine Thränen fließen, Bis mich das Schicksal folgen läßt. Denn soll mein Leichnam mit Vergnügen Bey dir geliebter Cörper liegen. So klagte dort vor grauen Zeiten Ein Ehmann, der sein Weib verlohr, Und füllte manch bestürtztes Ohr Durch seiner Gattin Seltenheiten. Gekränckter Wittwer, sieh allhier Ein deutlich Fürbild deiner Schmertzen; Der Tod reißt dir ein Stück vom Hertzen, Und trennt dein Ehgemahl von dir. Fürwar den Schmertz von solchen Wunden Hat Jacob kaum so starck empfunden. Jhm blieb die letzte Frucht am Leben, Sein höchstgeliebter Benjamin; Dir reißt der Tod gar beydes hin, Du must ihm Sohn und Mutter geben. Kein Wunder, daß dein matter Geist Gerührt, bestürtzt, erstarrt, erschrocken, Den bangen Thon der Trauer-Glocken Sein angenehmstes Labsal heist, Und kaum vermag den treuen Zähren Der heißen Tropfen Strom zu wehren. Ja,
Des II Theils I Capitel Du armer Jacob, deine Plage Jſt unertraͤglich und zu ſchwer. Geh, hole nun die Stunden her, Da dir dein Schatz in Armen lage. Gedenck einmahl der ſuͤßen Zeit, Da du zuerſt ihr Bild erblicket, Da ſie zuerſt dein Hertz entzuͤcket, Da du dich ihrer Huld erfreut. Da du in zweymahl ſieben Jahren Faſt ſtuͤndlich neue Luſt erfahren. Ach Schmertzensſohn! Pfand treuer Liebe! Muſt du der Urſprung meiner Pein, Die Quelle meines Ungluͤcks ſeyn? Ach daß die Mutter lebend bliebe! Nun will ich meiner Tage Reſt Mit lauter Gram und Seufzen ſchließen; Nun ſollen meine Thraͤnen fließen, Bis mich das Schickſal folgen laͤßt. Denn ſoll mein Leichnam mit Vergnuͤgen Bey dir geliebter Coͤrper liegen. So klagte dort vor grauen Zeiten Ein Ehmann, der ſein Weib verlohr, Und fuͤllte manch beſtuͤrtztes Ohr Durch ſeiner Gattin Seltenheiten. Gekraͤnckter Wittwer, ſieh allhier Ein deutlich Fuͤrbild deiner Schmertzen; Der Tod reißt dir ein Stuͤck vom Hertzen, Und trennt dein Ehgemahl von dir. Fuͤrwar den Schmertz von ſolchen Wunden Hat Jacob kaum ſo ſtarck empfunden. Jhm blieb die letzte Frucht am Leben, Sein hoͤchſtgeliebter Benjamin; Dir reißt der Tod gar beydes hin, Du muſt ihm Sohn und Mutter geben. Kein Wunder, daß dein matter Geiſt Geruͤhrt, beſtuͤrtzt, erſtarrt, erſchrocken, Den bangen Thon der Trauer-Glocken Sein angenehmſtes Labſal heiſt, Und kaum vermag den treuen Zaͤhren Der heißen Tropfen Strom zu wehren. Ja,
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Des II Theils I Capitel
Du armer Jacob, deine Plage
Jſt unertraͤglich und zu ſchwer.
Geh, hole nun die Stunden her,
Da dir dein Schatz in Armen lage.
Gedenck einmahl der ſuͤßen Zeit,
Da du zuerſt ihr Bild erblicket,
Da ſie zuerſt dein Hertz entzuͤcket,
Da du dich ihrer Huld erfreut.
Da du in zweymahl ſieben Jahren
Faſt ſtuͤndlich neue Luſt erfahren.
Ach Schmertzensſohn! Pfand treuer Liebe!
Muſt du der Urſprung meiner Pein,
Die Quelle meines Ungluͤcks ſeyn?
Ach daß die Mutter lebend bliebe!
Nun will ich meiner Tage Reſt
Mit lauter Gram und Seufzen ſchließen;
Nun ſollen meine Thraͤnen fließen,
Bis mich das Schickſal folgen laͤßt.
Denn ſoll mein Leichnam mit Vergnuͤgen
Bey dir geliebter Coͤrper liegen.
So klagte dort vor grauen Zeiten
Ein Ehmann, der ſein Weib verlohr,
Und fuͤllte manch beſtuͤrtztes Ohr
Durch ſeiner Gattin Seltenheiten.
Gekraͤnckter Wittwer, ſieh allhier
Ein deutlich Fuͤrbild deiner Schmertzen;
Der Tod reißt dir ein Stuͤck vom Hertzen,
Und trennt dein Ehgemahl von dir.
Fuͤrwar den Schmertz von ſolchen Wunden
Hat Jacob kaum ſo ſtarck empfunden.
Jhm blieb die letzte Frucht am Leben,
Sein hoͤchſtgeliebter Benjamin;
Dir reißt der Tod gar beydes hin,
Du muſt ihm Sohn und Mutter geben.
Kein Wunder, daß dein matter Geiſt
Geruͤhrt, beſtuͤrtzt, erſtarrt, erſchrocken,
Den bangen Thon der Trauer-Glocken
Sein angenehmſtes Labſal heiſt,
Und kaum vermag den treuen Zaͤhren
Der heißen Tropfen Strom zu wehren.
Ja,
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Zitationshilfe: | Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/378>, abgerufen am 16.02.2025. |