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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart.
und Worte zu reimen, dergleichen Exempel oben p. 196. vor-
gekommen.

Außer dem Sylbenmaaße und den Reimen trägt zum
Wohlklange eines Verßes, der Abschnitt in langen fünf-
bis sechsfüßigen Zeilen sehr viel bey. Dieses ist gleichsam
ein kleiner Ruheplatz, wo man in der Aussprache ein we-
nig stille halten, und wenn es nöthig seyn sollte, neuen A-
them schöpfen kan. Die Alten haben zu diesem ihrem Ab-
schnitte in Versen keine gewisse Stelle bestimmet, indem
sie z. E. in Hexametris bald in dem andern, bald in dem
dritten, bald im vierten Fuße den Abschnitt machen. Zum
Beweise sollen mir folgende fünf Zeilen Lucani dienen, die
zunechst auf die oben angezogene Stelle folgen:

Nec coiere pares; | alter vergentibus annis
In senium; | Iongoque togae tranquillior vsu,
Dedidicit jam pace ducem: | famaeque petitor
Multa dare in vulgus: | totus popularibus auris
Impelli, | plausuque sui gaudere rheatri.

Hier sieht man wohl, daß in der andren und fünften Zei-
le der Abschnitt in der Helfte des andern Fusses, in der er-
sten und vierten in der Helfte des dritten, und in der drit-
ten Zeile in der Helfte des vierten gemacht werden müsse.
Ju Virgilio und Ovidio findet man eben das, ob wohl es
nicht zu leugnen ist, daß die mittlere Art viel gemeiner ist
als die andern.

Wie nun dieses vor den Poeten überaus bequem ist,
und selbst den Versen eine angenehme Mannigfaltigkeit zu-
wege bringt; so haben sich auch die Jtaliäner und Engel-
länder an keine andre Regel binden wollen. Aus denen
kurtz vorhin angeführten Exempeln wird man solches zur
Gnüge abnehmen können, ja zuweilen wird man gar kei-
nen geschickten Abschnitt in einem Verse finden können.
Die Franzosen hergegen, die Holländer und wir Deut-
schen sind darinn viel genauer gegangen. Jn den zehn
und eilf-sylbigten Versen hat man nach der vierten Sylbe

und

Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
und Worte zu reimen, dergleichen Exempel oben p. 196. vor-
gekommen.

Außer dem Sylbenmaaße und den Reimen traͤgt zum
Wohlklange eines Verßes, der Abſchnitt in langen fuͤnf-
bis ſechsfuͤßigen Zeilen ſehr viel bey. Dieſes iſt gleichſam
ein kleiner Ruheplatz, wo man in der Ausſprache ein we-
nig ſtille halten, und wenn es noͤthig ſeyn ſollte, neuen A-
them ſchoͤpfen kan. Die Alten haben zu dieſem ihrem Ab-
ſchnitte in Verſen keine gewiſſe Stelle beſtimmet, indem
ſie z. E. in Hexametris bald in dem andern, bald in dem
dritten, bald im vierten Fuße den Abſchnitt machen. Zum
Beweiſe ſollen mir folgende fuͤnf Zeilen Lucani dienen, die
zunechſt auf die oben angezogene Stelle folgen:

Nec coiere pares; | alter vergentibus annis
In ſenium; | Iongoque togae tranquillior vſu,
Dedidicit jam pace ducem: | famaeque petitor
Multa dare in vulgus: | totus popularibus auris
Impelli, | plauſuque ſui gaudere rheatri.

Hier ſieht man wohl, daß in der andren und fuͤnften Zei-
le der Abſchnitt in der Helfte des andern Fuſſes, in der er-
ſten und vierten in der Helfte des dritten, und in der drit-
ten Zeile in der Helfte des vierten gemacht werden muͤſſe.
Ju Virgilio und Ovidio findet man eben das, ob wohl es
nicht zu leugnen iſt, daß die mittlere Art viel gemeiner iſt
als die andern.

Wie nun dieſes vor den Poeten uͤberaus bequem iſt,
und ſelbſt den Verſen eine angenehme Mannigfaltigkeit zu-
wege bringt; ſo haben ſich auch die Jtaliaͤner und Engel-
laͤnder an keine andre Regel binden wollen. Aus denen
kurtz vorhin angefuͤhrten Exempeln wird man ſolches zur
Gnuͤge abnehmen koͤnnen, ja zuweilen wird man gar kei-
nen geſchickten Abſchnitt in einem Verſe finden koͤnnen.
Die Franzoſen hergegen, die Hollaͤnder und wir Deut-
ſchen ſind darinn viel genauer gegangen. Jn den zehn
und eilf-ſylbigten Verſen hat man nach der vierten Sylbe

und
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[319/0347] Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart. und Worte zu reimen, dergleichen Exempel oben p. 196. vor- gekommen. Außer dem Sylbenmaaße und den Reimen traͤgt zum Wohlklange eines Verßes, der Abſchnitt in langen fuͤnf- bis ſechsfuͤßigen Zeilen ſehr viel bey. Dieſes iſt gleichſam ein kleiner Ruheplatz, wo man in der Ausſprache ein we- nig ſtille halten, und wenn es noͤthig ſeyn ſollte, neuen A- them ſchoͤpfen kan. Die Alten haben zu dieſem ihrem Ab- ſchnitte in Verſen keine gewiſſe Stelle beſtimmet, indem ſie z. E. in Hexametris bald in dem andern, bald in dem dritten, bald im vierten Fuße den Abſchnitt machen. Zum Beweiſe ſollen mir folgende fuͤnf Zeilen Lucani dienen, die zunechſt auf die oben angezogene Stelle folgen: Nec coiere pares; | alter vergentibus annis In ſenium; | Iongoque togae tranquillior vſu, Dedidicit jam pace ducem: | famaeque petitor Multa dare in vulgus: | totus popularibus auris Impelli, | plauſuque ſui gaudere rheatri. Hier ſieht man wohl, daß in der andren und fuͤnften Zei- le der Abſchnitt in der Helfte des andern Fuſſes, in der er- ſten und vierten in der Helfte des dritten, und in der drit- ten Zeile in der Helfte des vierten gemacht werden muͤſſe. Ju Virgilio und Ovidio findet man eben das, ob wohl es nicht zu leugnen iſt, daß die mittlere Art viel gemeiner iſt als die andern. Wie nun dieſes vor den Poeten uͤberaus bequem iſt, und ſelbſt den Verſen eine angenehme Mannigfaltigkeit zu- wege bringt; ſo haben ſich auch die Jtaliaͤner und Engel- laͤnder an keine andre Regel binden wollen. Aus denen kurtz vorhin angefuͤhrten Exempeln wird man ſolches zur Gnuͤge abnehmen koͤnnen, ja zuweilen wird man gar kei- nen geſchickten Abſchnitt in einem Verſe finden koͤnnen. Die Franzoſen hergegen, die Hollaͤnder und wir Deut- ſchen ſind darinn viel genauer gegangen. Jn den zehn und eilf-ſylbigten Verſen hat man nach der vierten Sylbe und

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/347>, abgerufen am 24.11.2024.