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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XII. Capitel
Für allem lehr uns doch den weisen Rath ermessen,
Nach welchem dein Befehl die gantze Welt regiert:
Damit wir insgesamt die großen Wercke preisen,
Die deine Macht gezeugt, so wie es uns geziemt.
Denn weder Sterblichen, noch den beglückten Göttern
Wird je von deiner Hand was köstlichers geschenckt,
Als wenn sie voller Lust die Regeln loben mögen,
Darnach dies Weltgebäu in schönster Ordnung geht.

Doch ich will deswegen nicht behaupten, daß man die Reime
gantz und gar aus unsrer Poesie abschaffen solle. Sie erwe-
cken dem Gehör ja soviel Belustigung als das Sylbenmaaß
und die Harmonie selbst; zumahl wenn sie ungezwungener
Weise kommen, und gleichsam von sich selber fließen. Sie
können auch mit vernünftigen Gedancken und witzigen Ein-
fällen, mit der ordentlichen Wortfügung und Richtigkeit des
Sylbenmaaßes gar wohl zusammen stehen, wie unsre Poe-
ten in unzehlichen Exempeln sattsam erwiesen haben. Meine
Absicht wäre zum höchsten, nur beyderley Arten der Verße
bey uns im Schwange zu sehen, wie solches in Jtalien und
Engelland geschieht, wo es einem jeden frey steht, gereimte
oder ungereimte Verße zu machen, nachdem es ihm beliebt.
Der Nutzen davon würde meines Erachtens vielfältig seyn.

Vors erste würde man sich gewehnen, mehr auf das in-
nere Wesen und die Sachen in Verßen zu sehen, als itzo ge-
schieht; da der Klang der Reime, sonderlich in kurzen Ver-
ßen das Gehör so einnimmt, daß das elendeste Zeug bey dem
grösten Theile der Leser Beyfall findet, welches doch gantz
kahl und mager aussehen würde, wenn es sich nicht reimete.
Dergestalt würden sich die ärgsten Stümper allezeit am
eifrigsten nach dem Reime drängen, und sich nie unterstehen
ungereimte Verße zu machen; aus Furcht daß man ohne
diese Schellen ihre schlechte Gedancken gar zu leicht gewahr
werden würde.

Hernach würde man bey uns leichter gute Ubersetzungen
der Alten machen können, als bisher geschehen: da das Joch
der Reime die Schwierigkeiten bey dieser Arbeit fast unüber-
windlich gemacht. Die Engelländer können daher alle grie-
chische und römische Poeten in ihrer Sprache, und zwar wie-

derum
Das XII. Capitel
Fuͤr allem lehr uns doch den weiſen Rath ermeſſen,
Nach welchem dein Befehl die gantze Welt regiert:
Damit wir insgeſamt die großen Wercke preiſen,
Die deine Macht gezeugt, ſo wie es uns geziemt.
Denn weder Sterblichen, noch den begluͤckten Goͤttern
Wird je von deiner Hand was koͤſtlichers geſchenckt,
Als wenn ſie voller Luſt die Regeln loben moͤgen,
Darnach dies Weltgebaͤu in ſchoͤnſter Ordnung geht.

Doch ich will deswegen nicht behaupten, daß man die Reime
gantz und gar aus unſrer Poeſie abſchaffen ſolle. Sie erwe-
cken dem Gehoͤr ja ſoviel Beluſtigung als das Sylbenmaaß
und die Harmonie ſelbſt; zumahl wenn ſie ungezwungener
Weiſe kommen, und gleichſam von ſich ſelber fließen. Sie
koͤnnen auch mit vernuͤnftigen Gedancken und witzigen Ein-
faͤllen, mit der ordentlichen Wortfuͤgung und Richtigkeit des
Sylbenmaaßes gar wohl zuſammen ſtehen, wie unſre Poe-
ten in unzehlichen Exempeln ſattſam erwieſen haben. Meine
Abſicht waͤre zum hoͤchſten, nur beyderley Arten der Verße
bey uns im Schwange zu ſehen, wie ſolches in Jtalien und
Engelland geſchieht, wo es einem jeden frey ſteht, gereimte
oder ungereimte Verße zu machen, nachdem es ihm beliebt.
Der Nutzen davon wuͤrde meines Erachtens vielfaͤltig ſeyn.

Vors erſte wuͤrde man ſich gewehnen, mehr auf das in-
nere Weſen und die Sachen in Verßen zu ſehen, als itzo ge-
ſchieht; da der Klang der Reime, ſonderlich in kurzen Ver-
ßen das Gehoͤr ſo einnimmt, daß das elendeſte Zeug bey dem
groͤſten Theile der Leſer Beyfall findet, welches doch gantz
kahl und mager ausſehen wuͤrde, wenn es ſich nicht reimete.
Dergeſtalt wuͤrden ſich die aͤrgſten Stuͤmper allezeit am
eifrigſten nach dem Reime draͤngen, und ſich nie unterſtehen
ungereimte Verße zu machen; aus Furcht daß man ohne
dieſe Schellen ihre ſchlechte Gedancken gar zu leicht gewahr
werden wuͤrde.

Hernach wuͤrde man bey uns leichter gute Uberſetzungen
der Alten machen koͤnnen, als bisher geſchehen: da das Joch
der Reime die Schwierigkeiten bey dieſer Arbeit faſt unuͤber-
windlich gemacht. Die Engellaͤnder koͤnnen daher alle grie-
chiſche und roͤmiſche Poeten in ihrer Sprache, und zwar wie-

derum
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[314/0342] Das XII. Capitel Fuͤr allem lehr uns doch den weiſen Rath ermeſſen, Nach welchem dein Befehl die gantze Welt regiert: Damit wir insgeſamt die großen Wercke preiſen, Die deine Macht gezeugt, ſo wie es uns geziemt. Denn weder Sterblichen, noch den begluͤckten Goͤttern Wird je von deiner Hand was koͤſtlichers geſchenckt, Als wenn ſie voller Luſt die Regeln loben moͤgen, Darnach dies Weltgebaͤu in ſchoͤnſter Ordnung geht. Doch ich will deswegen nicht behaupten, daß man die Reime gantz und gar aus unſrer Poeſie abſchaffen ſolle. Sie erwe- cken dem Gehoͤr ja ſoviel Beluſtigung als das Sylbenmaaß und die Harmonie ſelbſt; zumahl wenn ſie ungezwungener Weiſe kommen, und gleichſam von ſich ſelber fließen. Sie koͤnnen auch mit vernuͤnftigen Gedancken und witzigen Ein- faͤllen, mit der ordentlichen Wortfuͤgung und Richtigkeit des Sylbenmaaßes gar wohl zuſammen ſtehen, wie unſre Poe- ten in unzehlichen Exempeln ſattſam erwieſen haben. Meine Abſicht waͤre zum hoͤchſten, nur beyderley Arten der Verße bey uns im Schwange zu ſehen, wie ſolches in Jtalien und Engelland geſchieht, wo es einem jeden frey ſteht, gereimte oder ungereimte Verße zu machen, nachdem es ihm beliebt. Der Nutzen davon wuͤrde meines Erachtens vielfaͤltig ſeyn. Vors erſte wuͤrde man ſich gewehnen, mehr auf das in- nere Weſen und die Sachen in Verßen zu ſehen, als itzo ge- ſchieht; da der Klang der Reime, ſonderlich in kurzen Ver- ßen das Gehoͤr ſo einnimmt, daß das elendeſte Zeug bey dem groͤſten Theile der Leſer Beyfall findet, welches doch gantz kahl und mager ausſehen wuͤrde, wenn es ſich nicht reimete. Dergeſtalt wuͤrden ſich die aͤrgſten Stuͤmper allezeit am eifrigſten nach dem Reime draͤngen, und ſich nie unterſtehen ungereimte Verße zu machen; aus Furcht daß man ohne dieſe Schellen ihre ſchlechte Gedancken gar zu leicht gewahr werden wuͤrde. Hernach wuͤrde man bey uns leichter gute Uberſetzungen der Alten machen koͤnnen, als bisher geſchehen: da das Joch der Reime die Schwierigkeiten bey dieſer Arbeit faſt unuͤber- windlich gemacht. Die Engellaͤnder koͤnnen daher alle grie- chiſche und roͤmiſche Poeten in ihrer Sprache, und zwar wie- derum

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/342>, abgerufen am 28.11.2024.