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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Figuren in der Poesie.

Die IVte ist das Verbeissen (Ellipsis) oder Abbrechen einer
Redensart, die man nur anhebt, aber nicht völlig endiget.
Sie entsteht, wenn der Affect so hefftig ist, daß der Mund
und die Zunge den geschwinden Gedancken der Seele nicht
folgen kan, und also mitten in einem Satze abbrechen und
dem neuen Gedancken des Geistes plötzlich folgen muß.
Amthor hat aus dem Virgil das bekannte Quos ego! des Ne-
ptuni übersetzt, womit er die Winde bedroht, aber mitten
in dem Dräuworte inne hält.

Und sprach: Macht euch der Glantz der Ahnen so verwegen,
Dürft ihr mir unbewust die kühnen Flügel regen,
Daß Erd und Himmel fast sich durcheinander mischt.
Und der erhitzte Schaum bis an die Wolcken zischt.
Euch soll! - - doch laßt uns nur der Wellen Macht beschrencken.

Ein schön Exempel giebt auch Besser in seiner Ruhestatt der
Liebe, wo er die erwachte Cloris so reden läst:

Du bist des Stranges werth,
Hilf Himmel, was ist das! hast du den Witz verlohren?
Jst dieß die stete Treu, die du mir zugeschworen?
Hast du der Cloris Zorn so wenig denn gescheut,
Daß du so freventlich ihr Heiligthum entweyht?
Daß du - - welch eine That! Sie konnte nicht mehr sprechen,
Und wollte sich an ihm mit ihren Thränen rächen.

Die Vte könnte zur vorigen gerechnet werden, und heißt
das Hemmen (Aposiopesis), wenn eine schleunige Verän-
derung des Schlusses der angefangenen Rede Einhalt thut.
Canitz in seinem Gedichte von der Poesie läßt erst seinen
poetischen Trieb zu Vertheidigung derselben reden, hernach
aber fällt er demselben ins Wort:

Was mich nun dergestalt in Unschuld kan ergetzen,
Wozu mich die Natur - - halt ein! verführter Sinn,
Drum eben straf ich dich, weil ich besorget bin
Es möchte, was itzund noch leicht ist zu verwehren,
Sich endlich unvermerckt in die Natur verkehren.

Die VIte ist die Versetzung (Hyperbaton) eines Worts
oder Gedanckens von seiner natürlichen Stelle, die aber
nicht aus der Unfähigkeit des Poeten, sondern aus der Heff-
tigkeit des Affects herrühret, der dem Gemüthe nicht Zeit

läßt
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Von den Figuren in der Poeſie.

Die IVte iſt das Verbeiſſen (Ellipſis) oder Abbrechen einer
Redensart, die man nur anhebt, aber nicht voͤllig endiget.
Sie entſteht, wenn der Affect ſo hefftig iſt, daß der Mund
und die Zunge den geſchwinden Gedancken der Seele nicht
folgen kan, und alſo mitten in einem Satze abbrechen und
dem neuen Gedancken des Geiſtes ploͤtzlich folgen muß.
Amthor hat aus dem Virgil das bekannte Quos ego! des Ne-
ptuni uͤberſetzt, womit er die Winde bedroht, aber mitten
in dem Draͤuworte inne haͤlt.

Und ſprach: Macht euch der Glantz der Ahnen ſo verwegen,
Duͤrft ihr mir unbewuſt die kuͤhnen Fluͤgel regen,
Daß Erd und Himmel faſt ſich durcheinander miſcht.
Und der erhitzte Schaum bis an die Wolcken ziſcht.
Euch ſoll! ‒ ‒ doch laßt uns nur der Wellen Macht beſchrencken.

Ein ſchoͤn Exempel giebt auch Beſſer in ſeiner Ruheſtatt der
Liebe, wo er die erwachte Cloris ſo reden laͤſt:

Du biſt des Stranges werth,
Hilf Himmel, was iſt das! haſt du den Witz verlohren?
Jſt dieß die ſtete Treu, die du mir zugeſchworen?
Haſt du der Cloris Zorn ſo wenig denn geſcheut,
Daß du ſo freventlich ihr Heiligthum entweyht?
Daß du ‒ ‒ welch eine That! Sie konnte nicht mehr ſprechen,
Und wollte ſich an ihm mit ihren Thraͤnen raͤchen.

Die Vte koͤnnte zur vorigen gerechnet werden, und heißt
das Hemmen (Apoſiopeſis), wenn eine ſchleunige Veraͤn-
derung des Schluſſes der angefangenen Rede Einhalt thut.
Canitz in ſeinem Gedichte von der Poeſie laͤßt erſt ſeinen
poetiſchen Trieb zu Vertheidigung derſelben reden, hernach
aber faͤllt er demſelben ins Wort:

Was mich nun dergeſtalt in Unſchuld kan ergetzen,
Wozu mich die Natur ‒ ‒ halt ein! verfuͤhrter Sinn,
Drum eben ſtraf ich dich, weil ich beſorget bin
Es moͤchte, was itzund noch leicht iſt zu verwehren,
Sich endlich unvermerckt in die Natur verkehren.

Die VIte iſt die Verſetzung (Hyperbaton) eines Worts
oder Gedanckens von ſeiner natuͤrlichen Stelle, die aber
nicht aus der Unfaͤhigkeit des Poeten, ſondern aus der Heff-
tigkeit des Affects herruͤhret, der dem Gemuͤthe nicht Zeit

laͤßt
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[263/0291] Von den Figuren in der Poeſie. Die IVte iſt das Verbeiſſen (Ellipſis) oder Abbrechen einer Redensart, die man nur anhebt, aber nicht voͤllig endiget. Sie entſteht, wenn der Affect ſo hefftig iſt, daß der Mund und die Zunge den geſchwinden Gedancken der Seele nicht folgen kan, und alſo mitten in einem Satze abbrechen und dem neuen Gedancken des Geiſtes ploͤtzlich folgen muß. Amthor hat aus dem Virgil das bekannte Quos ego! des Ne- ptuni uͤberſetzt, womit er die Winde bedroht, aber mitten in dem Draͤuworte inne haͤlt. Und ſprach: Macht euch der Glantz der Ahnen ſo verwegen, Duͤrft ihr mir unbewuſt die kuͤhnen Fluͤgel regen, Daß Erd und Himmel faſt ſich durcheinander miſcht. Und der erhitzte Schaum bis an die Wolcken ziſcht. Euch ſoll! ‒ ‒ doch laßt uns nur der Wellen Macht beſchrencken. Ein ſchoͤn Exempel giebt auch Beſſer in ſeiner Ruheſtatt der Liebe, wo er die erwachte Cloris ſo reden laͤſt: Du biſt des Stranges werth, Hilf Himmel, was iſt das! haſt du den Witz verlohren? Jſt dieß die ſtete Treu, die du mir zugeſchworen? Haſt du der Cloris Zorn ſo wenig denn geſcheut, Daß du ſo freventlich ihr Heiligthum entweyht? Daß du ‒ ‒ welch eine That! Sie konnte nicht mehr ſprechen, Und wollte ſich an ihm mit ihren Thraͤnen raͤchen. Die Vte koͤnnte zur vorigen gerechnet werden, und heißt das Hemmen (Apoſiopeſis), wenn eine ſchleunige Veraͤn- derung des Schluſſes der angefangenen Rede Einhalt thut. Canitz in ſeinem Gedichte von der Poeſie laͤßt erſt ſeinen poetiſchen Trieb zu Vertheidigung derſelben reden, hernach aber faͤllt er demſelben ins Wort: Was mich nun dergeſtalt in Unſchuld kan ergetzen, Wozu mich die Natur ‒ ‒ halt ein! verfuͤhrter Sinn, Drum eben ſtraf ich dich, weil ich beſorget bin Es moͤchte, was itzund noch leicht iſt zu verwehren, Sich endlich unvermerckt in die Natur verkehren. Die VIte iſt die Verſetzung (Hyperbaton) eines Worts oder Gedanckens von ſeiner natuͤrlichen Stelle, die aber nicht aus der Unfaͤhigkeit des Poeten, ſondern aus der Heff- tigkeit des Affects herruͤhret, der dem Gemuͤthe nicht Zeit laͤßt R 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/291>, abgerufen am 25.11.2024.