P. Lami hierinn folgen, welche er in seiner Redekunst be- obachtet hat. Dieser hat die innere Natur der Figuren sehr genau eingesehen. Er hält sie vor eine Sprache der Affecten, vor einen Ausdruck starcker Gemüths-Bewegun- gen, und vergleichet sie mit den verschiedenen Gesichts-Zü- gen oder Lineamenten, daran man gleichfalls die innere Gemüths-Beschaffenheit von aussen abnehmen kan. Die Vergleichung ist glücklich und wohl angebracht; denn in der That sind die Figuren etwas mehr als blosse Zierrathe. Die gantze Stärcke einer Rede zeiget sich darinn, weil sie ein gewisses Feuer in sich enthalten, welches auch den Lesern oder Zuhörern, durch eine geheime Kunst, Funcken ins Hertz wirft, und sie gleichergestalt entzündet. Die Rede, so Virgil der Dido in den Mund gelegt, kan überhaupt hier zum Beweise dienen. Lami hat sie in einer Französischen Ubersetzung zu dem Ende angeführt, und ich will sie nach der Verdeutschung Amthors hieher setzen; weil sie ein Mu- ster wohl angebrachter Figuren abgeben kan, und eben die- jenige ist, von welcher Canitz dort geschrieben:
Wir lesen ja mit Lust Aeneas Abentheuer. Warum? Stößt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer; So hat es sein Virgil so künstlich vorgestellt, Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken überfällt: Und hör ich Dido dort von Hohn und Undanck sprechen; So möcht ich ihren Schimpf an den Trojanern rächen.
So lautet indessen die Rede selbst:
Sollt eine Göttin sich wohl deine Mutter nennen, Und ein Trojaner-Held dich vor sein Blut erkennen? Nein! du Verräther läugst! Ein harter Fels und Stein, Der grimme Caucasus muß selbst dein Vater seyn. Ein freches Tygerthier hat dir die Brust gereichet, Das durch Hircaniens verbrannte Wüste streichet. Jch rede was ich muß. Verstellen hilft mir nicht, Weil aller Hoffnungs-Grund auf ewig mir gebricht. Hat dieser heiße Bach, der meine Wangen nässet, Jhm auch den kleinsten Hauch von Seufzern ausgepresset? Wirft sein verstockter Sinn auch wohl noch einen Blick, Durch diese Fluth erweicht, auf seine Braut zurück? Mein Leid ist tausendfach! Was soll ich erst bedauren? Jch weiß, selbst Juno wird mich armes Weib betrauren,
Jch
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Von den Figuren in der Poeſie.
P. Lami hierinn folgen, welche er in ſeiner Redekunſt be- obachtet hat. Dieſer hat die innere Natur der Figuren ſehr genau eingeſehen. Er haͤlt ſie vor eine Sprache der Affecten, vor einen Ausdruck ſtarcker Gemuͤths-Bewegun- gen, und vergleichet ſie mit den verſchiedenen Geſichts-Zuͤ- gen oder Lineamenten, daran man gleichfalls die innere Gemuͤths-Beſchaffenheit von auſſen abnehmen kan. Die Vergleichung iſt gluͤcklich und wohl angebracht; denn in der That ſind die Figuren etwas mehr als bloſſe Zierrathe. Die gantze Staͤrcke einer Rede zeiget ſich darinn, weil ſie ein gewiſſes Feuer in ſich enthalten, welches auch den Leſern oder Zuhoͤrern, durch eine geheime Kunſt, Funcken ins Hertz wirft, und ſie gleichergeſtalt entzuͤndet. Die Rede, ſo Virgil der Dido in den Mund gelegt, kan uͤberhaupt hier zum Beweiſe dienen. Lami hat ſie in einer Franzoͤſiſchen Uberſetzung zu dem Ende angefuͤhrt, und ich will ſie nach der Verdeutſchung Amthors hieher ſetzen; weil ſie ein Mu- ſter wohl angebrachter Figuren abgeben kan, und eben die- jenige iſt, von welcher Canitz dort geſchrieben:
Wir leſen ja mit Luſt Aeneas Abentheuer. Warum? Stoͤßt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer; So hat es ſein Virgil ſo kuͤnſtlich vorgeſtellt, Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken uͤberfaͤllt: Und hoͤr ich Dido dort von Hohn und Undanck ſprechen; So moͤcht ich ihren Schimpf an den Trojanern raͤchen.
So lautet indeſſen die Rede ſelbſt:
Sollt eine Goͤttin ſich wohl deine Mutter nennen, Und ein Trojaner-Held dich vor ſein Blut erkennen? Nein! du Verraͤther laͤugſt! Ein harter Fels und Stein, Der grimme Caucaſus muß ſelbſt dein Vater ſeyn. Ein freches Tygerthier hat dir die Bruſt gereichet, Das durch Hircaniens verbrannte Wuͤſte ſtreichet. Jch rede was ich muß. Verſtellen hilft mir nicht, Weil aller Hoffnungs-Grund auf ewig mir gebricht. Hat dieſer heiße Bach, der meine Wangen naͤſſet, Jhm auch den kleinſten Hauch von Seufzern ausgepreſſet? Wirft ſein verſtockter Sinn auch wohl noch einen Blick, Durch dieſe Fluth erweicht, auf ſeine Braut zuruͤck? Mein Leid iſt tauſendfach! Was ſoll ich erſt bedauren? Jch weiß, ſelbſt Juno wird mich armes Weib betrauren,
Jch
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Von den Figuren in der Poeſie.
P. Lami hierinn folgen, welche er in ſeiner Redekunſt be-
obachtet hat. Dieſer hat die innere Natur der Figuren
ſehr genau eingeſehen. Er haͤlt ſie vor eine Sprache der
Affecten, vor einen Ausdruck ſtarcker Gemuͤths-Bewegun-
gen, und vergleichet ſie mit den verſchiedenen Geſichts-Zuͤ-
gen oder Lineamenten, daran man gleichfalls die innere
Gemuͤths-Beſchaffenheit von auſſen abnehmen kan. Die
Vergleichung iſt gluͤcklich und wohl angebracht; denn in
der That ſind die Figuren etwas mehr als bloſſe Zierrathe.
Die gantze Staͤrcke einer Rede zeiget ſich darinn, weil ſie
ein gewiſſes Feuer in ſich enthalten, welches auch den Leſern
oder Zuhoͤrern, durch eine geheime Kunſt, Funcken ins Hertz
wirft, und ſie gleichergeſtalt entzuͤndet. Die Rede, ſo
Virgil der Dido in den Mund gelegt, kan uͤberhaupt hier
zum Beweiſe dienen. Lami hat ſie in einer Franzoͤſiſchen
Uberſetzung zu dem Ende angefuͤhrt, und ich will ſie nach
der Verdeutſchung Amthors hieher ſetzen; weil ſie ein Mu-
ſter wohl angebrachter Figuren abgeben kan, und eben die-
jenige iſt, von welcher Canitz dort geſchrieben:
Wir leſen ja mit Luſt Aeneas Abentheuer.
Warum? Stoͤßt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer;
So hat es ſein Virgil ſo kuͤnſtlich vorgeſtellt,
Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken uͤberfaͤllt:
Und hoͤr ich Dido dort von Hohn und Undanck ſprechen;
So moͤcht ich ihren Schimpf an den Trojanern raͤchen.
So lautet indeſſen die Rede ſelbſt:
Sollt eine Goͤttin ſich wohl deine Mutter nennen,
Und ein Trojaner-Held dich vor ſein Blut erkennen?
Nein! du Verraͤther laͤugſt! Ein harter Fels und Stein,
Der grimme Caucaſus muß ſelbſt dein Vater ſeyn.
Ein freches Tygerthier hat dir die Bruſt gereichet,
Das durch Hircaniens verbrannte Wuͤſte ſtreichet.
Jch rede was ich muß. Verſtellen hilft mir nicht,
Weil aller Hoffnungs-Grund auf ewig mir gebricht.
Hat dieſer heiße Bach, der meine Wangen naͤſſet,
Jhm auch den kleinſten Hauch von Seufzern ausgepreſſet?
Wirft ſein verſtockter Sinn auch wohl noch einen Blick,
Durch dieſe Fluth erweicht, auf ſeine Braut zuruͤck?
Mein Leid iſt tauſendfach! Was ſoll ich erſt bedauren?
Jch weiß, ſelbſt Juno wird mich armes Weib betrauren,
Jch
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/287>, abgerufen am 16.02.2025.
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