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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von verblümten Redens-Arten.
Gedancken beflissen, sind in dieser Art des eigentlichen Aus-
druckes fast zu tief heruntergesuncken. Sie wollten die hoch-
trabende Lohensteinische Schreibart meiden, und fielen in
den gemeinen prosaischen Ausdruck; so daß endlich ihre Ge-
dichte nichts als eine abgezehlte Prose geworden. Jch will
hieher nur Chr. Weisen und Bessern rechnen, welche gewiß
in diesem Stücke vielmahls gar zu natürlich geschrieben.
Von dem Erstern kommt mir in seinen reifen Gedancken
p. 175. von ungefehr folgendes in die Hand:

Wer itzo funfzig Jahr in seinem gantzen Leben,
Zurücke legen kan, dem scheint es trefflich viel,
Die Welt nimmt täglich ab, und will fast Abscheid geben,
Jemehr die Jahrzahl wächst, je kürtzer wird das Ziel.
Derhalben welchen GOtt mit dieser Gnade seegnet,
Daß er in seiner Eh noch funfzig Jahr vollbringt,
Dem ist ein Wunderwerck und solch ein Glück begegnet,
Das unter hunderten kaum einem halb gelingt.
Hier steht dergleichen Mann, ein Priester greiß von Haaren etc.

Aus dem letztern fällt mir beym aufschlagen das Beylagers-
Gedichte von Alexandern und Roxanen in die Augen, wo
Jupiter im Vorspiele sich so hören läßt:

Daß Ehen auf Erden
Von Menschen vorgenommen werden,
Kommt nicht von Menschen-Vorsatz her:
Es ist mein Thun, der ich die Welt regiere,
Es ist ein Werck vom Jupiter.
Lernt Sterbliche, daß ich die Hertzen führe;
Daß Ehen zwar auf Erden
Vollzogen; aber nur von mir beschlossen werden.

Was ist nun in diesen beyden Stücken poetisches, außer dem
Sylbenmaße und den Reimen? Sind es nicht lauter gemei-
ne Gedancken, gemeine Wörter und Redensarten, gemei-
ne Bedeutungen derselben? Wie hätte man sich eigentlicher
ausdrücken, und den natürlichen Verstand der Worte ge-
nauer beybehalten können, als hier geschehen? Man darf nur
eine kleine Veränderung damit vornehmen, so daß das Syl-
benmaaß verschwindet, und der Reim wegfällt, so bleibt
nichts als eine sehr magre Prosa übrig. Wir wollen mit dem
ersten die Probe machen:

"Wer
O 3

Von verbluͤmten Redens-Arten.
Gedancken befliſſen, ſind in dieſer Art des eigentlichen Aus-
druckes faſt zu tief heruntergeſuncken. Sie wollten die hoch-
trabende Lohenſteiniſche Schreibart meiden, und fielen in
den gemeinen proſaiſchen Ausdruck; ſo daß endlich ihre Ge-
dichte nichts als eine abgezehlte Proſe geworden. Jch will
hieher nur Chr. Weiſen und Beſſern rechnen, welche gewiß
in dieſem Stuͤcke vielmahls gar zu natuͤrlich geſchrieben.
Von dem Erſtern kommt mir in ſeinen reifen Gedancken
p. 175. von ungefehr folgendes in die Hand:

Wer itzo funfzig Jahr in ſeinem gantzen Leben,
Zuruͤcke legen kan, dem ſcheint es trefflich viel,
Die Welt nimmt taͤglich ab, und will faſt Abſcheid geben,
Jemehr die Jahrzahl waͤchſt, je kuͤrtzer wird das Ziel.
Derhalben welchen GOtt mit dieſer Gnade ſeegnet,
Daß er in ſeiner Eh noch funfzig Jahr vollbringt,
Dem iſt ein Wunderwerck und ſolch ein Gluͤck begegnet,
Das unter hunderten kaum einem halb gelingt.
Hier ſteht dergleichen Mann, ein Prieſter greiß von Haaren ꝛc.

Aus dem letztern faͤllt mir beym aufſchlagen das Beylagers-
Gedichte von Alexandern und Roxanen in die Augen, wo
Jupiter im Vorſpiele ſich ſo hoͤren laͤßt:

Daß Ehen auf Erden
Von Menſchen vorgenommen werden,
Kommt nicht von Menſchen-Vorſatz her:
Es iſt mein Thun, der ich die Welt regiere,
Es iſt ein Werck vom Jupiter.
Lernt Sterbliche, daß ich die Hertzen fuͤhre;
Daß Ehen zwar auf Erden
Vollzogen; aber nur von mir beſchloſſen werden.

Was iſt nun in dieſen beyden Stuͤcken poetiſches, außer dem
Sylbenmaße und den Reimen? Sind es nicht lauter gemei-
ne Gedancken, gemeine Woͤrter und Redensarten, gemei-
ne Bedeutungen derſelben? Wie haͤtte man ſich eigentlicher
ausdruͤcken, und den natuͤrlichen Verſtand der Worte ge-
nauer beybehalten koͤnnen, als hier geſchehen? Man darf nur
eine kleine Veraͤnderung damit vornehmen, ſo daß das Syl-
benmaaß verſchwindet, und der Reim wegfaͤllt, ſo bleibt
nichts als eine ſehr magre Proſa uͤbrig. Wir wollen mit dem
erſten die Probe machen:

„Wer
O 3
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[213/0241] Von verbluͤmten Redens-Arten. Gedancken befliſſen, ſind in dieſer Art des eigentlichen Aus- druckes faſt zu tief heruntergeſuncken. Sie wollten die hoch- trabende Lohenſteiniſche Schreibart meiden, und fielen in den gemeinen proſaiſchen Ausdruck; ſo daß endlich ihre Ge- dichte nichts als eine abgezehlte Proſe geworden. Jch will hieher nur Chr. Weiſen und Beſſern rechnen, welche gewiß in dieſem Stuͤcke vielmahls gar zu natuͤrlich geſchrieben. Von dem Erſtern kommt mir in ſeinen reifen Gedancken p. 175. von ungefehr folgendes in die Hand: Wer itzo funfzig Jahr in ſeinem gantzen Leben, Zuruͤcke legen kan, dem ſcheint es trefflich viel, Die Welt nimmt taͤglich ab, und will faſt Abſcheid geben, Jemehr die Jahrzahl waͤchſt, je kuͤrtzer wird das Ziel. Derhalben welchen GOtt mit dieſer Gnade ſeegnet, Daß er in ſeiner Eh noch funfzig Jahr vollbringt, Dem iſt ein Wunderwerck und ſolch ein Gluͤck begegnet, Das unter hunderten kaum einem halb gelingt. Hier ſteht dergleichen Mann, ein Prieſter greiß von Haaren ꝛc. Aus dem letztern faͤllt mir beym aufſchlagen das Beylagers- Gedichte von Alexandern und Roxanen in die Augen, wo Jupiter im Vorſpiele ſich ſo hoͤren laͤßt: Daß Ehen auf Erden Von Menſchen vorgenommen werden, Kommt nicht von Menſchen-Vorſatz her: Es iſt mein Thun, der ich die Welt regiere, Es iſt ein Werck vom Jupiter. Lernt Sterbliche, daß ich die Hertzen fuͤhre; Daß Ehen zwar auf Erden Vollzogen; aber nur von mir beſchloſſen werden. Was iſt nun in dieſen beyden Stuͤcken poetiſches, außer dem Sylbenmaße und den Reimen? Sind es nicht lauter gemei- ne Gedancken, gemeine Woͤrter und Redensarten, gemei- ne Bedeutungen derſelben? Wie haͤtte man ſich eigentlicher ausdruͤcken, und den natuͤrlichen Verſtand der Worte ge- nauer beybehalten koͤnnen, als hier geſchehen? Man darf nur eine kleine Veraͤnderung damit vornehmen, ſo daß das Syl- benmaaß verſchwindet, und der Reim wegfaͤllt, ſo bleibt nichts als eine ſehr magre Proſa uͤbrig. Wir wollen mit dem erſten die Probe machen: „Wer O 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/241>, abgerufen am 25.04.2024.