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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Worten.
dern bekannten und offt gebrauchten nimmermehr hätten er-
warten können.

Flemming ist in dergleichen Künsten noch fast erfahrner
gewesen. Er beschreibt in einer Ode eine Frühlings-Nacht
folgendergestalt:

Alles braucht sich seiner Ruh,
Sehet, wie die Saat sich bücket,
Die verwachte Rose nicket,
Und thut itzt ihr Auge zu.
Und die taumelnden Cypressen,
Haben ihrer selbst vergessen.
Die gekühlte Lufft schleicht aus,
Und haucht auf die trucknen Matten,
Thauende, gesunde Schatten.
Und das frohe Sternenhaus
Geust den schlummernden Gewächsen,
Neue Krafft in ihre Flechsen.

Alle diese Beywörter sind so auserlesen und sinnreich, daß
ich mich nirgends entsinne, was schöners in dieser Gattung
gefunden zu haben. Weil sie aber fast alle Gleichnißweise
zu verstehen sind, so gehören sie eigentlich nicht in dieses
Capitel. Eben so glücklich in Beywörtern ist Amthor.
Z. E. p. 187.

Der Nordwind hat der Bäume Zweigen
Den grünen Vorhang abgestreift,
Die kahlen Gipfel stehn bereift,
Des Jahres Alter anzuzeigen.
Das Laub entfleucht der kalten Lufft
Und suchet die beliebte Grufft:
Vielleicht nur in den stillen Gründen,
Vor ihren Stürmen Schutz zu finden.

Das ist die erste Strophe von einer Hochzeit-Ode: Jn den
andern finde ich noch das leichtbedeckte Vogelheer, laue
Sümpfe, warme Nester, viergefüßte rauche Schaaren,
neu geputzte Waffen, ein reichbehaarter Balg, der er-
starrte
Cörper, mit weicher Hand ein hartes Eisen (den
Ofen) befühlen; todte Funcken, eine lindgemachte Glut, ein
holdbelebter Schooß, in seinen Federweichen Grüfften,

ein

Von poetiſchen Worten.
dern bekannten und offt gebrauchten nimmermehr haͤtten er-
warten koͤnnen.

Flemming iſt in dergleichen Kuͤnſten noch faſt erfahrner
geweſen. Er beſchreibt in einer Ode eine Fruͤhlings-Nacht
folgendergeſtalt:

Alles braucht ſich ſeiner Ruh,
Sehet, wie die Saat ſich buͤcket,
Die verwachte Roſe nicket,
Und thut itzt ihr Auge zu.
Und die taumelnden Cypreſſen,
Haben ihrer ſelbſt vergeſſen.
Die gekuͤhlte Lufft ſchleicht aus,
Und haucht auf die trucknen Matten,
Thauende, geſunde Schatten.
Und das frohe Sternenhaus
Geuſt den ſchlummernden Gewaͤchſen,
Neue Krafft in ihre Flechſen.

Alle dieſe Beywoͤrter ſind ſo auserleſen und ſinnreich, daß
ich mich nirgends entſinne, was ſchoͤners in dieſer Gattung
gefunden zu haben. Weil ſie aber faſt alle Gleichnißweiſe
zu verſtehen ſind, ſo gehoͤren ſie eigentlich nicht in dieſes
Capitel. Eben ſo gluͤcklich in Beywoͤrtern iſt Amthor.
Z. E. p. 187.

Der Nordwind hat der Baͤume Zweigen
Den gruͤnen Vorhang abgeſtreift,
Die kahlen Gipfel ſtehn bereift,
Des Jahres Alter anzuzeigen.
Das Laub entfleucht der kalten Lufft
Und ſuchet die beliebte Grufft:
Vielleicht nur in den ſtillen Gruͤnden,
Vor ihren Stuͤrmen Schutz zu finden.

Das iſt die erſte Strophe von einer Hochzeit-Ode: Jn den
andern finde ich noch das leichtbedeckte Vogelheer, laue
Suͤmpfe, warme Neſter, viergefuͤßte rauche Schaaren,
neu geputzte Waffen, ein reichbehaarter Balg, der er-
ſtarrte
Coͤrper, mit weicher Hand ein hartes Eiſen (den
Ofen) befuͤhlen; todte Funcken, eine lindgemachte Glut, ein
holdbelebter Schooß, in ſeinen Federweichen Gruͤfften,

ein
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[205/0233] Von poetiſchen Worten. dern bekannten und offt gebrauchten nimmermehr haͤtten er- warten koͤnnen. Flemming iſt in dergleichen Kuͤnſten noch faſt erfahrner geweſen. Er beſchreibt in einer Ode eine Fruͤhlings-Nacht folgendergeſtalt: Alles braucht ſich ſeiner Ruh, Sehet, wie die Saat ſich buͤcket, Die verwachte Roſe nicket, Und thut itzt ihr Auge zu. Und die taumelnden Cypreſſen, Haben ihrer ſelbſt vergeſſen. Die gekuͤhlte Lufft ſchleicht aus, Und haucht auf die trucknen Matten, Thauende, geſunde Schatten. Und das frohe Sternenhaus Geuſt den ſchlummernden Gewaͤchſen, Neue Krafft in ihre Flechſen. Alle dieſe Beywoͤrter ſind ſo auserleſen und ſinnreich, daß ich mich nirgends entſinne, was ſchoͤners in dieſer Gattung gefunden zu haben. Weil ſie aber faſt alle Gleichnißweiſe zu verſtehen ſind, ſo gehoͤren ſie eigentlich nicht in dieſes Capitel. Eben ſo gluͤcklich in Beywoͤrtern iſt Amthor. Z. E. p. 187. Der Nordwind hat der Baͤume Zweigen Den gruͤnen Vorhang abgeſtreift, Die kahlen Gipfel ſtehn bereift, Des Jahres Alter anzuzeigen. Das Laub entfleucht der kalten Lufft Und ſuchet die beliebte Grufft: Vielleicht nur in den ſtillen Gruͤnden, Vor ihren Stuͤrmen Schutz zu finden. Das iſt die erſte Strophe von einer Hochzeit-Ode: Jn den andern finde ich noch das leichtbedeckte Vogelheer, laue Suͤmpfe, warme Neſter, viergefuͤßte rauche Schaaren, neu geputzte Waffen, ein reichbehaarter Balg, der er- ſtarrte Coͤrper, mit weicher Hand ein hartes Eiſen (den Ofen) befuͤhlen; todte Funcken, eine lindgemachte Glut, ein holdbelebter Schooß, in ſeinen Federweichen Gruͤfften, ein

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/233>, abgerufen am 26.04.2024.