Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das VI. Capitel mert haben werde. Doch er fährt fort zu fragen, ob dennaus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erschlagenen Kö- nige gewesen, niemand wieder zurücke gekommen? Einer der wircklich mit zugegen gewesen, giebt zur Antwort, daß es von einer Menge von Straßen-Räubern geschehen; da es doch von einer einzigen Person, nehmlich vom Oedipus selbst, ge- schehen war. Wie war das möglich, eine so falsche Antwort zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das Geringste zu besorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich, daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus noch lebe; und von diesem hätte er leicht völlige Nachricht einziehen können: Allein er läßt ihn, wieder alles Vermu- then, nicht einmahl zu sich fordern. Auch der Chor, der ihm allezeit Anschläge giebt, denckt nicht daran, sondern räth ihm, lieber den Tiresias fordern zu lassen. Endlich in der vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen, wie es mit dem Tode des Königes bewandt gewesen; weil er so begierig war, seinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni- ger als das. Die Tragödie endigt sich, ehe Phorbas ein Wort von dem Tode seines Herrn zu reden bekommen. Dieß mag zu einer Probe genug seyn, daß Sophocles Jch
Das VI. Capitel mert haben werde. Doch er faͤhrt fort zu fragen, ob dennaus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erſchlagenen Koͤ- nige geweſen, niemand wieder zuruͤcke gekommen? Einer der wircklich mit zugegen geweſen, giebt zur Antwort, daß es von einer Menge von Straßen-Raͤubern geſchehen; da es doch von einer einzigen Perſon, nehmlich vom Oedipus ſelbſt, ge- ſchehen war. Wie war das moͤglich, eine ſo falſche Antwort zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das Geringſte zu beſorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich, daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus noch lebe; und von dieſem haͤtte er leicht voͤllige Nachricht einziehen koͤnnen: Allein er laͤßt ihn, wieder alles Vermu- then, nicht einmahl zu ſich fordern. Auch der Chor, der ihm allezeit Anſchlaͤge giebt, denckt nicht daran, ſondern raͤth ihm, lieber den Tireſias fordern zu laſſen. Endlich in der vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen, wie es mit dem Tode des Koͤniges bewandt geweſen; weil er ſo begierig war, ſeinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni- ger als das. Die Tragoͤdie endigt ſich, ehe Phorbas ein Wort von dem Tode ſeines Herrn zu reden bekommen. Dieß mag zu einer Probe genug ſeyn, daß Sophocles Jch
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0212" n="184"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">VI.</hi> Capitel</hi></fw><lb/> mert haben werde. Doch er faͤhrt fort zu fragen, ob denn<lb/> aus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erſchlagenen Koͤ-<lb/> nige geweſen, niemand wieder zuruͤcke gekommen? Einer der<lb/> wircklich mit zugegen geweſen, giebt zur Antwort, daß es von<lb/> einer Menge von Straßen-Raͤubern geſchehen; da es doch<lb/> von einer einzigen Perſon, nehmlich vom Oedipus ſelbſt, ge-<lb/> ſchehen war. Wie war das moͤglich, eine ſo falſche Antwort<lb/> zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das<lb/> Geringſte zu beſorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich,<lb/> daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus<lb/> noch lebe; und von dieſem haͤtte er leicht voͤllige Nachricht<lb/> einziehen koͤnnen: Allein er laͤßt ihn, wieder alles Vermu-<lb/> then, nicht einmahl zu ſich fordern. Auch der Chor, der ihm<lb/> allezeit Anſchlaͤge giebt, denckt nicht daran, ſondern raͤth<lb/> ihm, lieber den Tireſias fordern zu laſſen. Endlich in der<lb/> vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt<lb/> man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen,<lb/> wie es mit dem Tode des Koͤniges bewandt geweſen; weil er<lb/> ſo begierig war, ſeinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni-<lb/> ger als das. Die Tragoͤdie endigt ſich, ehe Phorbas ein<lb/> Wort von dem Tode ſeines Herrn zu reden bekommen.</p><lb/> <p>Dieß mag zu einer Probe genug ſeyn, daß Sophocles<lb/> die Wahrſcheinlichkeit nicht genau beobachtet habe. Wer<lb/> ſich ausfuͤhrlicher darum bekuͤmmern will, kan die Critique<lb/> nachleſen, die Voltaire uͤber die drey Oedipos, nehmlich den<lb/> griechiſchen, des Corneille franzoͤſiſchen, und ſeinen eigenen<lb/> gemacht. Jmgleichen kan man die Critik uͤber den Cid, von<lb/> der franzoͤſiſchen Academie in dieſer Abſicht zu rathe ziehen.<lb/> Die Liebhaber der Opern moͤgen St. Evremonts Gedancken<lb/> daruͤber nachſchlagen; und uͤberhaupt von Theatraliſchen<lb/> Poeſien kan man auch leſen was Cervantes im Don Quixo-<lb/> te, einen gewiſſen Canonicum davon hat ſagen laſſen. Die<lb/> Wahrſcheinlichkeit in Schaͤfergedichten anlangend, darf<lb/> man nur Fontenellens Diſcours, imgleichen den Guardian<lb/> davon beſehen. Die Satire betreffend, ſehe man Mu-<lb/> ralts Briefe uͤber die Franzoſen nach, wo er des Boileau ſeine<lb/> Satire uͤber Paris unterſuchet hat.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [184/0212]
Das VI. Capitel
mert haben werde. Doch er faͤhrt fort zu fragen, ob denn
aus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erſchlagenen Koͤ-
nige geweſen, niemand wieder zuruͤcke gekommen? Einer der
wircklich mit zugegen geweſen, giebt zur Antwort, daß es von
einer Menge von Straßen-Raͤubern geſchehen; da es doch
von einer einzigen Perſon, nehmlich vom Oedipus ſelbſt, ge-
ſchehen war. Wie war das moͤglich, eine ſo falſche Antwort
zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das
Geringſte zu beſorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich,
daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus
noch lebe; und von dieſem haͤtte er leicht voͤllige Nachricht
einziehen koͤnnen: Allein er laͤßt ihn, wieder alles Vermu-
then, nicht einmahl zu ſich fordern. Auch der Chor, der ihm
allezeit Anſchlaͤge giebt, denckt nicht daran, ſondern raͤth
ihm, lieber den Tireſias fordern zu laſſen. Endlich in der
vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt
man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen,
wie es mit dem Tode des Koͤniges bewandt geweſen; weil er
ſo begierig war, ſeinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni-
ger als das. Die Tragoͤdie endigt ſich, ehe Phorbas ein
Wort von dem Tode ſeines Herrn zu reden bekommen.
Dieß mag zu einer Probe genug ſeyn, daß Sophocles
die Wahrſcheinlichkeit nicht genau beobachtet habe. Wer
ſich ausfuͤhrlicher darum bekuͤmmern will, kan die Critique
nachleſen, die Voltaire uͤber die drey Oedipos, nehmlich den
griechiſchen, des Corneille franzoͤſiſchen, und ſeinen eigenen
gemacht. Jmgleichen kan man die Critik uͤber den Cid, von
der franzoͤſiſchen Academie in dieſer Abſicht zu rathe ziehen.
Die Liebhaber der Opern moͤgen St. Evremonts Gedancken
daruͤber nachſchlagen; und uͤberhaupt von Theatraliſchen
Poeſien kan man auch leſen was Cervantes im Don Quixo-
te, einen gewiſſen Canonicum davon hat ſagen laſſen. Die
Wahrſcheinlichkeit in Schaͤfergedichten anlangend, darf
man nur Fontenellens Diſcours, imgleichen den Guardian
davon beſehen. Die Satire betreffend, ſehe man Mu-
ralts Briefe uͤber die Franzoſen nach, wo er des Boileau ſeine
Satire uͤber Paris unterſuchet hat.
Jch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |