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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VI. Capitel
Zaubrer nicht vermag; thut derjenige, den er gelästert hat;
und was das Aergste ist, durch ein wahrhaftes Wunder-
werck, dabey er die Gesetze der Natur aufheben muß. So
sagt der Poet:

Aux magiques accents que sa bouche prononce
Les Seize osent du Ciel attendre la Reponse,
A devoiler leur sort ils pensent le forcer
Le Ciel pour les punir voulut les exaucer.
Il interrompt pour eux les Loix de la Nature,
De ces Antres muets sort un triste murmure,
Mille eclairs redoublez dans la profonde nuit,
Poussent un jour affreux qui renait & qui fuit.
Au milieu de ses Henri brillant de gloire,
Aparoit a leurs yeux sur un char de victoire. &c.

Wo hat man nun ein solch Exempel von dergleichen Begeben-
heiten gehört oder gesehen, da GOtt anstatt des Satans einem
Hexenmeister seinen Wunsch erfüllet; ihn dadurch in seiner
Thorheit gestärcket, und also der Ehre seines eigenen Nah-
mens selbst Hindernisse in den Weg gelegt. Herr Voltaire,
der sonst solche gesunde Begriffe von dem höchsten Wesen
hat, sollte sich hier wohl etwas behutsamer aufgeführt haben;
damit er die Regeln der Wahrscheinlichkeit, die er andern so
wohl vorzuschreiben weiß, selbst nicht aus den Augen gesetzt
hätte.

Jch habe mich bisher in Bemerckung der Fehler bloß al-
lein bey den berühmtesten Heldengedichten der ältern und
neuern aufgehalten, und würde noch ein deutsches Helden-
gedichte vornehmen müssen; wenn eins verhanden wäre, so
sich der Mühe verlohnte. Wir haben zwar den Wittekind,
den uns Postel verfertiget hat; allein dieser verdient eben so
wenig eine Critic, als des Chapelains Mädchen von Or-
leans, oder des St. Amand erretteter Moses in Franckreich.
Zudem wird er fast von niemand gelesen, und also ist es nicht
zu besorgen, daß sein Exempel andre verführen werde. Jch
komme also noch mit wenigen auf die Fehler, so in dramati-
schen Poesien wieder die Wahrscheinlichkeit begangen wer-
den. Die Alten sind davon eben so wenig frey als die Neu-
ern, und wenn wir sie gleich loben, so wollen wir nicht alles

schlech-

Das VI. Capitel
Zaubrer nicht vermag; thut derjenige, den er gelaͤſtert hat;
und was das Aergſte iſt, durch ein wahrhaftes Wunder-
werck, dabey er die Geſetze der Natur aufheben muß. So
ſagt der Poet:

Aux magiques accents que ſa bouche prononce
Les Seize oſent du Ciel attendre la Reponſe,
A devoiler leur ſort ils penſent le forcer
Le Ciel pour les punir voulut les exaucer.
Il interrompt pour eux les Loix de la Nature,
De ces Antres muëts ſort un triſte murmure,
Mille eclairs redoublez dans la profonde nuit,
Pouſſent un jour affreux qui renait & qui fuit.
Au milieu de ſes Henri brillant de gloire,
Aparoit à leurs yeux ſur un char de victoire. &c.

Wo hat man nun ein ſolch Exempel von dergleichen Begeben-
heiten gehoͤrt oder geſehen, da GOtt anſtatt des Satans einem
Hexenmeiſter ſeinen Wunſch erfuͤllet; ihn dadurch in ſeiner
Thorheit geſtaͤrcket, und alſo der Ehre ſeines eigenen Nah-
mens ſelbſt Hinderniſſe in den Weg gelegt. Herr Voltaire,
der ſonſt ſolche geſunde Begriffe von dem hoͤchſten Weſen
hat, ſollte ſich hier wohl etwas behutſamer aufgefuͤhrt haben;
damit er die Regeln der Wahrſcheinlichkeit, die er andern ſo
wohl vorzuſchreiben weiß, ſelbſt nicht aus den Augen geſetzt
haͤtte.

Jch habe mich bisher in Bemerckung der Fehler bloß al-
lein bey den beruͤhmteſten Heldengedichten der aͤltern und
neuern aufgehalten, und wuͤrde noch ein deutſches Helden-
gedichte vornehmen muͤſſen; wenn eins verhanden waͤre, ſo
ſich der Muͤhe verlohnte. Wir haben zwar den Wittekind,
den uns Poſtel verfertiget hat; allein dieſer verdient eben ſo
wenig eine Critic, als des Chapelains Maͤdchen von Or-
leans, oder des St. Amand erretteter Moſes in Franckreich.
Zudem wird er faſt von niemand geleſen, und alſo iſt es nicht
zu beſorgen, daß ſein Exempel andre verfuͤhren werde. Jch
komme alſo noch mit wenigen auf die Fehler, ſo in dramati-
ſchen Poeſien wieder die Wahrſcheinlichkeit begangen wer-
den. Die Alten ſind davon eben ſo wenig frey als die Neu-
ern, und wenn wir ſie gleich loben, ſo wollen wir nicht alles

ſchlech-
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[182/0210] Das VI. Capitel Zaubrer nicht vermag; thut derjenige, den er gelaͤſtert hat; und was das Aergſte iſt, durch ein wahrhaftes Wunder- werck, dabey er die Geſetze der Natur aufheben muß. So ſagt der Poet: Aux magiques accents que ſa bouche prononce Les Seize oſent du Ciel attendre la Reponſe, A devoiler leur ſort ils penſent le forcer Le Ciel pour les punir voulut les exaucer. Il interrompt pour eux les Loix de la Nature, De ces Antres muëts ſort un triſte murmure, Mille eclairs redoublez dans la profonde nuit, Pouſſent un jour affreux qui renait & qui fuit. Au milieu de ſes Henri brillant de gloire, Aparoit à leurs yeux ſur un char de victoire. &c. Wo hat man nun ein ſolch Exempel von dergleichen Begeben- heiten gehoͤrt oder geſehen, da GOtt anſtatt des Satans einem Hexenmeiſter ſeinen Wunſch erfuͤllet; ihn dadurch in ſeiner Thorheit geſtaͤrcket, und alſo der Ehre ſeines eigenen Nah- mens ſelbſt Hinderniſſe in den Weg gelegt. Herr Voltaire, der ſonſt ſolche geſunde Begriffe von dem hoͤchſten Weſen hat, ſollte ſich hier wohl etwas behutſamer aufgefuͤhrt haben; damit er die Regeln der Wahrſcheinlichkeit, die er andern ſo wohl vorzuſchreiben weiß, ſelbſt nicht aus den Augen geſetzt haͤtte. Jch habe mich bisher in Bemerckung der Fehler bloß al- lein bey den beruͤhmteſten Heldengedichten der aͤltern und neuern aufgehalten, und wuͤrde noch ein deutſches Helden- gedichte vornehmen muͤſſen; wenn eins verhanden waͤre, ſo ſich der Muͤhe verlohnte. Wir haben zwar den Wittekind, den uns Poſtel verfertiget hat; allein dieſer verdient eben ſo wenig eine Critic, als des Chapelains Maͤdchen von Or- leans, oder des St. Amand erretteter Moſes in Franckreich. Zudem wird er faſt von niemand geleſen, und alſo iſt es nicht zu beſorgen, daß ſein Exempel andre verfuͤhren werde. Jch komme alſo noch mit wenigen auf die Fehler, ſo in dramati- ſchen Poeſien wieder die Wahrſcheinlichkeit begangen wer- den. Die Alten ſind davon eben ſo wenig frey als die Neu- ern, und wenn wir ſie gleich loben, ſo wollen wir nicht alles ſchlech-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/210>, abgerufen am 24.11.2024.