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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
fängt der Poet an diesen gefallenen Geist aus der heydni-
schen Mythologie zu schimpfen, und ihn bald einen Narciß
bald einen Phaeton zu nennen, und die strenge Richterhand
des wahren GOttes, mit einem fabelhafften Phlegeton zu
vermengen. Die Sybillen und Orackel, werden bald dar-
auf von der Jungfer Maria und der Elisabeth abgelöset. Und
auf die Geburt Christi muß der Friedens-Göttin Tempel
einfallen. Endlich holt der Poet noch nach, daß Satan auch
Flügel gehabt, die als die grösten Schiffseegel ausgedehnet,
um vor dem Bethlehemitischen Stern zu entfliehen; aber
durch ein stählernes Gebiß in seinem ewigen Gefängnisse fest
behalten worden.

Ob eine solche Schilderey des Satans, die halb Christ-
lich, halb heydnisch ist; ihn bald zum Könige und bald zum
Sclaven macht; bald andre schlagen, bald selbst gefoltert
und gepeitschet werden läßt; ihm Hörner und Klauen, einen
Schwantz und stählerne Schuppen giebt; ihn mit Feuer
und Schlangen zugleich umgiebt, ja bekleidet auch nackend
zugleich, auf dem Thron und auf der Folterbanck zugleich
vorstellt u. s. w. ja ferner alles übrige durch einander men-
get; ob diese Beschreibung wahrscheinlich sey, sage ich, das
lasse ich meine Leser selbst urtheilen. Mir kommt es vor, daß
der Dichter aus großer Begierde recht was wunderbares zu
machen, die Regel Horatii vergessen:

Aut famam sequere, aut sibi conuenientia finge
Scriptor.

Jmgleichen:

Ficta voluptatis caussa sint proxima veris
Nec quodcunque volat poscat sibi fabula credi.

Jch komme auf den Milton, der in englischer Sprache ein
Heldengedicht vom verlohrnen Paradiese geschrieben.
Dryden ein andrer englischer Poet zieht ihn dem Homer und
Virgil in einer Sinnschrifft vor:

The force of nature could no surthergo,
To moke a third, she join'd the former two.

Er hat sich aber auch nicht aller Fehler in diesem Stücke ent-
halten können, so große Fähigkeit er auch sonst erwiesen hat.

Erst-
M

Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
faͤngt der Poet an dieſen gefallenen Geiſt aus der heydni-
ſchen Mythologie zu ſchimpfen, und ihn bald einen Narciß
bald einen Phaeton zu nennen, und die ſtrenge Richterhand
des wahren GOttes, mit einem fabelhafften Phlegeton zu
vermengen. Die Sybillen und Orackel, werden bald dar-
auf von der Jungfer Maria und der Eliſabeth abgeloͤſet. Und
auf die Geburt Chriſti muß der Friedens-Goͤttin Tempel
einfallen. Endlich holt der Poet noch nach, daß Satan auch
Fluͤgel gehabt, die als die groͤſten Schiffſeegel ausgedehnet,
um vor dem Bethlehemitiſchen Stern zu entfliehen; aber
durch ein ſtaͤhlernes Gebiß in ſeinem ewigen Gefaͤngniſſe feſt
behalten worden.

Ob eine ſolche Schilderey des Satans, die halb Chriſt-
lich, halb heydniſch iſt; ihn bald zum Koͤnige und bald zum
Sclaven macht; bald andre ſchlagen, bald ſelbſt gefoltert
und gepeitſchet werden laͤßt; ihm Hoͤrner und Klauen, einen
Schwantz und ſtaͤhlerne Schuppen giebt; ihn mit Feuer
und Schlangen zugleich umgiebt, ja bekleidet auch nackend
zugleich, auf dem Thron und auf der Folterbanck zugleich
vorſtellt u. ſ. w. ja ferner alles uͤbrige durch einander men-
get; ob dieſe Beſchreibung wahrſcheinlich ſey, ſage ich, das
laſſe ich meine Leſer ſelbſt urtheilen. Mir kommt es vor, daß
der Dichter aus großer Begierde recht was wunderbares zu
machen, die Regel Horatii vergeſſen:

Aut famam ſequere, aut ſibi conuenientia finge
Scriptor.

Jmgleichen:

Ficta voluptatis cauſſa ſint proxima veris
Nec quodcunque volat poſcat ſibi fabula credi.

Jch komme auf den Milton, der in engliſcher Sprache ein
Heldengedicht vom verlohrnen Paradieſe geſchrieben.
Dryden ein andrer engliſcher Poet zieht ihn dem Homer und
Virgil in einer Sinnſchrifft vor:

The force of nature could no ſurthergo,
To moke a third, ſhe join’d the former two.

Er hat ſich aber auch nicht aller Fehler in dieſem Stuͤcke ent-
halten koͤnnen, ſo große Faͤhigkeit er auch ſonſt erwieſen hat.

Erſt-
M
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[177/0205] Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. faͤngt der Poet an dieſen gefallenen Geiſt aus der heydni- ſchen Mythologie zu ſchimpfen, und ihn bald einen Narciß bald einen Phaeton zu nennen, und die ſtrenge Richterhand des wahren GOttes, mit einem fabelhafften Phlegeton zu vermengen. Die Sybillen und Orackel, werden bald dar- auf von der Jungfer Maria und der Eliſabeth abgeloͤſet. Und auf die Geburt Chriſti muß der Friedens-Goͤttin Tempel einfallen. Endlich holt der Poet noch nach, daß Satan auch Fluͤgel gehabt, die als die groͤſten Schiffſeegel ausgedehnet, um vor dem Bethlehemitiſchen Stern zu entfliehen; aber durch ein ſtaͤhlernes Gebiß in ſeinem ewigen Gefaͤngniſſe feſt behalten worden. Ob eine ſolche Schilderey des Satans, die halb Chriſt- lich, halb heydniſch iſt; ihn bald zum Koͤnige und bald zum Sclaven macht; bald andre ſchlagen, bald ſelbſt gefoltert und gepeitſchet werden laͤßt; ihm Hoͤrner und Klauen, einen Schwantz und ſtaͤhlerne Schuppen giebt; ihn mit Feuer und Schlangen zugleich umgiebt, ja bekleidet auch nackend zugleich, auf dem Thron und auf der Folterbanck zugleich vorſtellt u. ſ. w. ja ferner alles uͤbrige durch einander men- get; ob dieſe Beſchreibung wahrſcheinlich ſey, ſage ich, das laſſe ich meine Leſer ſelbſt urtheilen. Mir kommt es vor, daß der Dichter aus großer Begierde recht was wunderbares zu machen, die Regel Horatii vergeſſen: Aut famam ſequere, aut ſibi conuenientia finge Scriptor. Jmgleichen: Ficta voluptatis cauſſa ſint proxima veris Nec quodcunque volat poſcat ſibi fabula credi. Jch komme auf den Milton, der in engliſcher Sprache ein Heldengedicht vom verlohrnen Paradieſe geſchrieben. Dryden ein andrer engliſcher Poet zieht ihn dem Homer und Virgil in einer Sinnſchrifft vor: The force of nature could no ſurthergo, To moke a third, ſhe join’d the former two. Er hat ſich aber auch nicht aller Fehler in dieſem Stuͤcke ent- halten koͤnnen, ſo große Faͤhigkeit er auch ſonſt erwieſen hat. Erſt- M

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/205>, abgerufen am 23.04.2024.