O Schmach! ach Weh! o Schmach! o Schmach! die ich muß leiden, O Schmach! du kränckest mich am meisten noch darzu.
Das ist nun allererst der vierte Theil des Aechzens und Wehklagens, darüber einem Zeit und Weile lang wird, wenn man es hinter einander durchlesen will. Die ersten vier Zeilen giengen noch an, weil sie einen kurtzen Abscheid von Mann und Mutter in sich enthalten; der ziemlich na- türlich ist. Die andern vier so an die Welt gerichtet sind, kommen schon künstlicher heraus. Denn die Welt einen Kercker voller Buben zu nennen, ist vor ihre Traurigkeit gar zu studirt. Warum sagt sie nicht lieber zu den beyden Alten: Jhr ehrvergeßnen Buben! Das war meines Erachtens leichter von ihr zu vermuthen, da ihr der Abschied so schwer ward, und die Aeltesten allein Schuld daran hatten. Jn den folgenden vier Zeilen kommen die ersten vier von Wort zu Wort wieder vor, und das läuft wieder die Natur und wird also unglaublich. Wie ist es möglich eine und dieselbe Klage, die aus sechs und dreyßig Wörtern besteht, zwey mahl hinter einander zu wiederhohlen ohne eine Sylbe darinn zu ändern. Ja! wenn Susanna Franckens Verße auswen- dig gelernt, und sie als eine Comödiantin auf der Schau- bühne hergesagt hätte! Es kömmt eben so heraus, als die Wiederholungen so im Homero vorkommen, womit die Critici niemahls zu frieden gewesen. Das folgende insge- samt ahmet zwar das unterbrochene Reden und Schluchzen eines weinenden Weibes einiger massen nach; aber es über- schreitet die Maaß, und erwecket anstatt der Verwunderung und des Mitleidens lauter Eckel. Es ist auch unmöglich, daß eine mit Thränen und häufigen Seufzern, bey gehemm- tem Athemholen verrichtete Klage, so lange dauren könne; welches ein jeder selbst wahrnehmen wird, wenn er die gantze Stelle nachliest. Jch will itzo nicht untersuchen ob der Poet wohlgethan, daß er die Unschuld und Tugend so kleinmüthig und verzagt zum Tode geführt: Denn war- um hat er sie nicht lieber standhafft und großmüthig ge- bildet? Jch erinnere nur wie leicht man aus Begierde zu dem Ungemeinen und Wunderbaren zu gelangen, ins Abge-
schmackte
Das V. Capitel
O Schmach! ach Weh! o Schmach! o Schmach! die ich muß leiden, O Schmach! du kraͤnckeſt mich am meiſten noch darzu.
Das iſt nun allererſt der vierte Theil des Aechzens und Wehklagens, daruͤber einem Zeit und Weile lang wird, wenn man es hinter einander durchleſen will. Die erſten vier Zeilen giengen noch an, weil ſie einen kurtzen Abſcheid von Mann und Mutter in ſich enthalten; der ziemlich na- tuͤrlich iſt. Die andern vier ſo an die Welt gerichtet ſind, kommen ſchon kuͤnſtlicher heraus. Denn die Welt einen Kercker voller Buben zu nennen, iſt vor ihre Traurigkeit gar zu ſtudirt. Warum ſagt ſie nicht lieber zu den beyden Alten: Jhr ehrvergeßnen Buben! Das war meines Erachtens leichter von ihr zu vermuthen, da ihr der Abſchied ſo ſchwer ward, und die Aelteſten allein Schuld daran hatten. Jn den folgenden vier Zeilen kommen die erſten vier von Wort zu Wort wieder vor, und das laͤuft wieder die Natur und wird alſo unglaublich. Wie iſt es moͤglich eine und dieſelbe Klage, die aus ſechs und dreyßig Woͤrtern beſteht, zwey mahl hinter einander zu wiederhohlen ohne eine Sylbe darinn zu aͤndern. Ja! wenn Suſanna Franckens Verße auswen- dig gelernt, und ſie als eine Comoͤdiantin auf der Schau- buͤhne hergeſagt haͤtte! Es koͤmmt eben ſo heraus, als die Wiederholungen ſo im Homero vorkommen, womit die Critici niemahls zu frieden geweſen. Das folgende insge- ſamt ahmet zwar das unterbrochene Reden und Schluchzen eines weinenden Weibes einiger maſſen nach; aber es uͤber- ſchreitet die Maaß, und erwecket anſtatt der Verwunderung und des Mitleidens lauter Eckel. Es iſt auch unmoͤglich, daß eine mit Thraͤnen und haͤufigen Seufzern, bey gehemm- tem Athemholen verrichtete Klage, ſo lange dauren koͤnne; welches ein jeder ſelbſt wahrnehmen wird, wenn er die gantze Stelle nachlieſt. Jch will itzo nicht unterſuchen ob der Poet wohlgethan, daß er die Unſchuld und Tugend ſo kleinmuͤthig und verzagt zum Tode gefuͤhrt: Denn war- um hat er ſie nicht lieber ſtandhafft und großmuͤthig ge- bildet? Jch erinnere nur wie leicht man aus Begierde zu dem Ungemeinen und Wunderbaren zu gelangen, ins Abge-
ſchmackte
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Das V. Capitel
O Schmach! ach Weh! o Schmach! o Schmach! die ich muß leiden,
O Schmach! du kraͤnckeſt mich am meiſten noch darzu.
Das iſt nun allererſt der vierte Theil des Aechzens und
Wehklagens, daruͤber einem Zeit und Weile lang wird,
wenn man es hinter einander durchleſen will. Die erſten
vier Zeilen giengen noch an, weil ſie einen kurtzen Abſcheid
von Mann und Mutter in ſich enthalten; der ziemlich na-
tuͤrlich iſt. Die andern vier ſo an die Welt gerichtet ſind,
kommen ſchon kuͤnſtlicher heraus. Denn die Welt einen
Kercker voller Buben zu nennen, iſt vor ihre Traurigkeit gar
zu ſtudirt. Warum ſagt ſie nicht lieber zu den beyden Alten:
Jhr ehrvergeßnen Buben! Das war meines Erachtens
leichter von ihr zu vermuthen, da ihr der Abſchied ſo ſchwer
ward, und die Aelteſten allein Schuld daran hatten. Jn
den folgenden vier Zeilen kommen die erſten vier von Wort
zu Wort wieder vor, und das laͤuft wieder die Natur und
wird alſo unglaublich. Wie iſt es moͤglich eine und dieſelbe
Klage, die aus ſechs und dreyßig Woͤrtern beſteht, zwey mahl
hinter einander zu wiederhohlen ohne eine Sylbe darinn zu
aͤndern. Ja! wenn Suſanna Franckens Verße auswen-
dig gelernt, und ſie als eine Comoͤdiantin auf der Schau-
buͤhne hergeſagt haͤtte! Es koͤmmt eben ſo heraus, als die
Wiederholungen ſo im Homero vorkommen, womit die
Critici niemahls zu frieden geweſen. Das folgende insge-
ſamt ahmet zwar das unterbrochene Reden und Schluchzen
eines weinenden Weibes einiger maſſen nach; aber es uͤber-
ſchreitet die Maaß, und erwecket anſtatt der Verwunderung
und des Mitleidens lauter Eckel. Es iſt auch unmoͤglich,
daß eine mit Thraͤnen und haͤufigen Seufzern, bey gehemm-
tem Athemholen verrichtete Klage, ſo lange dauren koͤnne;
welches ein jeder ſelbſt wahrnehmen wird, wenn er die gantze
Stelle nachlieſt. Jch will itzo nicht unterſuchen ob der
Poet wohlgethan, daß er die Unſchuld und Tugend ſo
kleinmuͤthig und verzagt zum Tode gefuͤhrt: Denn war-
um hat er ſie nicht lieber ſtandhafft und großmuͤthig ge-
bildet? Jch erinnere nur wie leicht man aus Begierde zu
dem Ungemeinen und Wunderbaren zu gelangen, ins Abge-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/188>, abgerufen am 16.02.2025.
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