Schönheit zu zeigen vermögend ist, aus was vor Vollkom- menheiten dieselbe eigentlich entstehet: So bald wird der Geschmack von der Sache in eine gründliche Einsicht ver- wandelt, wie bereits oben gewiesen worden. Endlich unter- scheide ich den guten Geschmack vom übeln, durch das Bey- wort richtig, so ich zu dem Urtheile setze. Wer einen guten Geschmack hat, der muß richtig von der klar empfundenen Schönheit eines Dinges urtheilen, das ist, nichts vor schön halten, was nicht wahrhafftig schön ist: und nichts vor heß- lich erklären; was nicht heßlich ist. Der Probierstein dieses Urtheiles darf nicht weit gesucht werden. Man findet ihn in den Regeln der Vollkommenheit, die sich vor jede besondre Art schöner Dinge, a. d. s. Gebäude, Schildereyen, Mu- sicken u. s. w. schicken, und von rechten Meistern derselben deutlich begriffen und erwiesen worden. Derjenige Geschmack ist also gut, der mit den Regeln überein kommt, die von der Vernunft in einer Art von Sachen allbereit fest gesetzet worden.
Nach dieser allgemeinen Beschreibung und Erklärung des guten Geschmackes überhaupt, wird es leicht fallen den guten Geschmack in der Poesie zu erklären. Es ist nehmlich derselbe eine Geschicklichkeit von der Schönheit eines Gedich- tes, Gedanckens oder Ausdruckes recht zu urtheilen, die man gröstentheils nur klar empfunden, und nach den Regeln selbst nicht geprüfet hat. Und aus dieser Beschreibung ist es nun- mehr leicht zu begreifen, daß ein jeder Poet von rechtswegen damit versehen seyn solle.
Es lassen sich aber aus dieser Erklärung alle die schweren Fragen beantworten, die von dem Geschmacke schon aufge- worfen worden. Man will wissen: Ob der Geschmack mit dem Menschen gebohren, oder erst allmählich erlanget werde? Jch wollte dabey fragen: Ob der Verstand, Witz, und Geist eines Poeten mit ihm gebohren würden? Denn eben das, was man mir hier antworten wird, kan auch jenem Zweifel abhelfen. Wir bringen wohl nichts mehr als die bloße Fä- higkeit mit uns zur Welt. Diese ist nun freylich grösser oder kleiner, und thut sich entweder bald oder spät hervor: Die
Art
G 5
Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
Schoͤnheit zu zeigen vermoͤgend iſt, aus was vor Vollkom- menheiten dieſelbe eigentlich entſtehet: So bald wird der Geſchmack von der Sache in eine gruͤndliche Einſicht ver- wandelt, wie bereits oben gewieſen worden. Endlich unter- ſcheide ich den guten Geſchmack vom uͤbeln, durch das Bey- wort richtig, ſo ich zu dem Urtheile ſetze. Wer einen guten Geſchmack hat, der muß richtig von der klar empfundenen Schoͤnheit eines Dinges urtheilen, das iſt, nichts vor ſchoͤn halten, was nicht wahrhafftig ſchoͤn iſt: und nichts vor heß- lich erklaͤren; was nicht heßlich iſt. Der Probierſtein dieſes Urtheiles darf nicht weit geſucht werden. Man findet ihn in den Regeln der Vollkommenheit, die ſich vor jede beſondre Art ſchoͤner Dinge, a. d. ſ. Gebaͤude, Schildereyen, Mu- ſicken u. ſ. w. ſchicken, und von rechten Meiſtern derſelben deutlich begriffen und erwieſen worden. Derjenige Geſchmack iſt alſo gut, der mit den Regeln uͤberein kommt, die von der Vernunft in einer Art von Sachen allbereit feſt geſetzet worden.
Nach dieſer allgemeinen Beſchreibung und Erklaͤrung des guten Geſchmackes uͤberhaupt, wird es leicht fallen den guten Geſchmack in der Poeſie zu erklaͤren. Es iſt nehmlich derſelbe eine Geſchicklichkeit von der Schoͤnheit eines Gedich- tes, Gedanckens oder Ausdruckes recht zu urtheilen, die man groͤſtentheils nur klar empfunden, und nach den Regeln ſelbſt nicht gepruͤfet hat. Und aus dieſer Beſchreibung iſt es nun- mehr leicht zu begreifen, daß ein jeder Poet von rechtswegen damit verſehen ſeyn ſolle.
Es laſſen ſich aber aus dieſer Erklaͤrung alle die ſchweren Fragen beantworten, die von dem Geſchmacke ſchon aufge- worfen worden. Man will wiſſen: Ob der Geſchmack mit dem Menſchen gebohren, oder erſt allmaͤhlich erlanget werde? Jch wollte dabey fragen: Ob der Verſtand, Witz, und Geiſt eines Poeten mit ihm gebohren wuͤrden? Denn eben das, was man mir hier antworten wird, kan auch jenem Zweifel abhelfen. Wir bringen wohl nichts mehr als die bloße Faͤ- higkeit mit uns zur Welt. Dieſe iſt nun freylich groͤſſer oder kleiner, und thut ſich entweder bald oder ſpaͤt hervor: Die
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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
Schoͤnheit zu zeigen vermoͤgend iſt, aus was vor Vollkom-
menheiten dieſelbe eigentlich entſtehet: So bald wird der
Geſchmack von der Sache in eine gruͤndliche Einſicht ver-
wandelt, wie bereits oben gewieſen worden. Endlich unter-
ſcheide ich den guten Geſchmack vom uͤbeln, durch das Bey-
wort richtig, ſo ich zu dem Urtheile ſetze. Wer einen guten
Geſchmack hat, der muß richtig von der klar empfundenen
Schoͤnheit eines Dinges urtheilen, das iſt, nichts vor ſchoͤn
halten, was nicht wahrhafftig ſchoͤn iſt: und nichts vor heß-
lich erklaͤren; was nicht heßlich iſt. Der Probierſtein dieſes
Urtheiles darf nicht weit geſucht werden. Man findet ihn in
den Regeln der Vollkommenheit, die ſich vor jede beſondre
Art ſchoͤner Dinge, a. d. ſ. Gebaͤude, Schildereyen, Mu-
ſicken u. ſ. w. ſchicken, und von rechten Meiſtern derſelben
deutlich begriffen und erwieſen worden. Derjenige Geſchmack
iſt alſo gut, der mit den Regeln uͤberein kommt, die von der
Vernunft in einer Art von Sachen allbereit feſt geſetzet
worden.
Nach dieſer allgemeinen Beſchreibung und Erklaͤrung
des guten Geſchmackes uͤberhaupt, wird es leicht fallen den
guten Geſchmack in der Poeſie zu erklaͤren. Es iſt nehmlich
derſelbe eine Geſchicklichkeit von der Schoͤnheit eines Gedich-
tes, Gedanckens oder Ausdruckes recht zu urtheilen, die man
groͤſtentheils nur klar empfunden, und nach den Regeln ſelbſt
nicht gepruͤfet hat. Und aus dieſer Beſchreibung iſt es nun-
mehr leicht zu begreifen, daß ein jeder Poet von rechtswegen
damit verſehen ſeyn ſolle.
Es laſſen ſich aber aus dieſer Erklaͤrung alle die ſchweren
Fragen beantworten, die von dem Geſchmacke ſchon aufge-
worfen worden. Man will wiſſen: Ob der Geſchmack mit
dem Menſchen gebohren, oder erſt allmaͤhlich erlanget werde?
Jch wollte dabey fragen: Ob der Verſtand, Witz, und Geiſt
eines Poeten mit ihm gebohren wuͤrden? Denn eben das,
was man mir hier antworten wird, kan auch jenem Zweifel
abhelfen. Wir bringen wohl nichts mehr als die bloße Faͤ-
higkeit mit uns zur Welt. Dieſe iſt nun freylich groͤſſer oder
kleiner, und thut ſich entweder bald oder ſpaͤt hervor: Die
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/133>, abgerufen am 17.02.2025.
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