schlechte damit gut heissen, so ihnen zuweilen entwischet ist. Sophocles soll uns bey den Griechen mit seinem Oedipus zum Beyspiel dienen, daß er auch habe fehlen können: wenn gleich die Fabel überhaupt und das gantze Stück seinen Werth behält.
Der Schauplatz öffnet sich durch einen Chor Thebani- scher Bürger, die vor den Altären auf ihren Knien liegen, und von den Göttern das Ende ihres Unglücks erbitten wol- len. Oedipus ihr König, erscheint mitten unter ihnen, und sagt: Jch bin Oedipus, der in aller Welt so berühmt ist. Was ist die Ursache, meine Kinder, weswegen ihr hie- her gekommen? Jst es hier wohl wahrscheinlich, daß die Thebaner ihren Herrn nicht gekannt; und daß er es also nö- thig gehabt zu sagen wer er sey? Der Hohepriester antwor- tet ihm indessen im Nahmen des Volcks. Du siehst hier Jünglinge und alte Männer vor dir. Jch, der ich dich anrede, bin der Oberpriester Jupiters. Deine Stadt ist wie ein Schiff, so von Ungewittern bestürmt wird etc. und hier fängt er ihm an die Pest zu beschreiben, die im Lande damahls wütete. Sollte hier wohl Oedipus wiederum we- der den Hohenpriester gekannt, noch um den Zustand seines Landes gewust haben? Jndem die Beschreibung der Pest noch währet, kömmt Creon, der Jocasta Bruder, den man an das Orackel geschickt hatte, eine göttliche Antwort wegen der Landplage zu vernehmen, dieser redet den Oedipus an: Herr, spricht er, wir haben vormahls einen König ge- habt der Lajus hieß. Jch weiß es, erwiedert jener, ob ich ihn gleich niemahls gesehen habe. Er ist erschlagen worden, versetzt Creon, und Apollo will, daß wir seine Mörder zur Strafe ziehen sollen. Jst denn Lajus zu Hause oder im Felde erschlagen worden; fragt Oedipus hierauf. Hier sieht nun wohl abermahl ein jeder, es sey nicht wahrscheinlich, daß Creon eine so bekannte Sache, als der Tod des Königs Lajus in Theben seyn muste, dem als was unbekanntes werde erzehlet haben, der an seiner Stelle schon etliche Jahre regieret hatte: Vielweniger, daß Oedipus sich in so langer Zeit nicht mehr um die Art seines Todes beküm-
mert
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Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
ſchlechte damit gut heiſſen, ſo ihnen zuweilen entwiſchet iſt. Sophocles ſoll uns bey den Griechen mit ſeinem Oedipus zum Beyſpiel dienen, daß er auch habe fehlen koͤnnen: wenn gleich die Fabel uͤberhaupt und das gantze Stuͤck ſeinen Werth behaͤlt.
Der Schauplatz oͤffnet ſich durch einen Chor Thebani- ſcher Buͤrger, die vor den Altaͤren auf ihren Knien liegen, und von den Goͤttern das Ende ihres Ungluͤcks erbitten wol- len. Oedipus ihr Koͤnig, erſcheint mitten unter ihnen, und ſagt: Jch bin Oedipus, der in aller Welt ſo beruͤhmt iſt. Was iſt die Urſache, meine Kinder, weswegen ihr hie- her gekommen? Jſt es hier wohl wahrſcheinlich, daß die Thebaner ihren Herrn nicht gekannt; und daß er es alſo noͤ- thig gehabt zu ſagen wer er ſey? Der Hoheprieſter antwor- tet ihm indeſſen im Nahmen des Volcks. Du ſiehſt hier Juͤnglinge und alte Maͤnner vor dir. Jch, der ich dich anrede, bin der Oberprieſter Jupiters. Deine Stadt iſt wie ein Schiff, ſo von Ungewittern beſtuͤrmt wird ꝛc. und hier faͤngt er ihm an die Peſt zu beſchreiben, die im Lande damahls wuͤtete. Sollte hier wohl Oedipus wiederum we- der den Hohenprieſter gekannt, noch um den Zuſtand ſeines Landes gewuſt haben? Jndem die Beſchreibung der Peſt noch waͤhret, koͤmmt Creon, der Jocaſta Bruder, den man an das Orackel geſchickt hatte, eine goͤttliche Antwort wegen der Landplage zu vernehmen, dieſer redet den Oedipus an: Herr, ſpricht er, wir haben vormahls einen Koͤnig ge- habt der Lajus hieß. Jch weiß es, erwiedert jener, ob ich ihn gleich niemahls geſehen habe. Er iſt erſchlagen worden, verſetzt Creon, und Apollo will, daß wir ſeine Moͤrder zur Strafe ziehen ſollen. Jſt denn Lajus zu Hauſe oder im Felde erſchlagen worden; fragt Oedipus hierauf. Hier ſieht nun wohl abermahl ein jeder, es ſey nicht wahrſcheinlich, daß Creon eine ſo bekannte Sache, als der Tod des Koͤnigs Lajus in Theben ſeyn muſte, dem als was unbekanntes werde erzehlet haben, der an ſeiner Stelle ſchon etliche Jahre regieret hatte: Vielweniger, daß Oedipus ſich in ſo langer Zeit nicht mehr um die Art ſeines Todes bekuͤm-
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Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
ſchlechte damit gut heiſſen, ſo ihnen zuweilen entwiſchet iſt.
Sophocles ſoll uns bey den Griechen mit ſeinem Oedipus
zum Beyſpiel dienen, daß er auch habe fehlen koͤnnen: wenn
gleich die Fabel uͤberhaupt und das gantze Stuͤck ſeinen
Werth behaͤlt.
Der Schauplatz oͤffnet ſich durch einen Chor Thebani-
ſcher Buͤrger, die vor den Altaͤren auf ihren Knien liegen,
und von den Goͤttern das Ende ihres Ungluͤcks erbitten wol-
len. Oedipus ihr Koͤnig, erſcheint mitten unter ihnen, und
ſagt: Jch bin Oedipus, der in aller Welt ſo beruͤhmt iſt.
Was iſt die Urſache, meine Kinder, weswegen ihr hie-
her gekommen? Jſt es hier wohl wahrſcheinlich, daß die
Thebaner ihren Herrn nicht gekannt; und daß er es alſo noͤ-
thig gehabt zu ſagen wer er ſey? Der Hoheprieſter antwor-
tet ihm indeſſen im Nahmen des Volcks. Du ſiehſt hier
Juͤnglinge und alte Maͤnner vor dir. Jch, der ich dich
anrede, bin der Oberprieſter Jupiters. Deine Stadt
iſt wie ein Schiff, ſo von Ungewittern beſtuͤrmt wird ꝛc.
und hier faͤngt er ihm an die Peſt zu beſchreiben, die im Lande
damahls wuͤtete. Sollte hier wohl Oedipus wiederum we-
der den Hohenprieſter gekannt, noch um den Zuſtand ſeines
Landes gewuſt haben? Jndem die Beſchreibung der Peſt
noch waͤhret, koͤmmt Creon, der Jocaſta Bruder, den man
an das Orackel geſchickt hatte, eine goͤttliche Antwort wegen
der Landplage zu vernehmen, dieſer redet den Oedipus an:
Herr, ſpricht er, wir haben vormahls einen Koͤnig ge-
habt der Lajus hieß. Jch weiß es, erwiedert jener, ob
ich ihn gleich niemahls geſehen habe. Er iſt erſchlagen
worden, verſetzt Creon, und Apollo will, daß wir ſeine
Moͤrder zur Strafe ziehen ſollen. Jſt denn Lajus zu
Hauſe oder im Felde erſchlagen worden; fragt Oedipus
hierauf. Hier ſieht nun wohl abermahl ein jeder, es ſey nicht
wahrſcheinlich, daß Creon eine ſo bekannte Sache, als der
Tod des Koͤnigs Lajus in Theben ſeyn muſte, dem als was
unbekanntes werde erzehlet haben, der an ſeiner Stelle ſchon
etliche Jahre regieret hatte: Vielweniger, daß Oedipus ſich
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/211>, abgerufen am 24.01.2025.
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