wie auch den wunderwürdigen Küraß Diomedis, der ein Meisterstück des künstlichen Vulcans ist. Erobern wir diese preiswürdige Beute, so ist kein Zweifel, die Griechen werden sich diese Nacht auf ihre noch übrige Schiffe begeben, und unser Ufer verlassen. Scheint es hier nicht als wenn Homerus seine Pferde den Menschen gleich gemacht hätte, indem er sie auf eben die Art durch die Beredsamkeit lencken läst, als ob sie Verstand und Freyheit hätten? Und wer kan also glauben, daß hier die Regeln der Wahrscheinlichkeit beobachtet werden.
Es ist Zeit auf den Virgil zu kommen, und einige Fehler anzumercken, die er dawieder begangen. Von den Wun- dern, so er hie und da eingestreuet, ist schon im vorigen Capitel gedacht; nur muß ich hinzusetzen, daß Voltaire in seinen Gedancken vom Heldengedichte, diesen Poeten dadurch ent- schuldigen wollen, daß schon Dionysius von Halicarnaß, in seiner Historie der Harpyen sowohl, als des Celeno und des Königes Cacus gedacht; Virgil also Wahrscheinlichkeit genug vor sich gehabt habe. Allein erstlich ist es gewiß, daß dieser Geschichtschreiber seinem eigenen Geständnisse nach, sein Buch allererst zwanzig Jahre nach geendigten Bürger- kriegen in Jtalien geschrieben; als Virgil schon zehn oder zwölf Jahre todt gewesen: So daß eher Dionysius den Poeten, als dieser jenen gelesen und gebrauchet haben kan. Gesetzt aber, zweytens, es wäre so, wie Voltaire meynt; so würde doch eine unwahrscheinliche Sache nicht wahrschein- lich, wenn sie gleich ein fabelhaffter Historicus erzehlet hätte. Zum Exempel, wer auch in Verßen alles das anbringen woll- te, was Herodotus erzehlet, der würde lächerlich dadurch werden. Die Verwandlung der Schiffe in Seenymphen, die er vermuthlich nur aus der gemeinen Sage der Leute her- genommen, hätte er auch ersparen können, und meines Er- achtens hilft es nichts, daß er den Vers hinzugesetzt:
Prisca fides facto, sed fama perennis.
Denn warum muste er alle Mährchen, die er selbst nicht glaubte, in sein Heldengedichte bringen? Weit ärger hat in- dessen Virgilius wieder die Wahrscheinlichkeit verstoßen, da
er
Das VI. Capitel
wie auch den wunderwuͤrdigen Kuͤraß Diomedis, der ein Meiſterſtuͤck des kuͤnſtlichen Vulcans iſt. Erobern wir dieſe preiswuͤrdige Beute, ſo iſt kein Zweifel, die Griechen werden ſich dieſe Nacht auf ihre noch uͤbrige Schiffe begeben, und unſer Ufer verlaſſen. Scheint es hier nicht als wenn Homerus ſeine Pferde den Menſchen gleich gemacht haͤtte, indem er ſie auf eben die Art durch die Beredſamkeit lencken laͤſt, als ob ſie Verſtand und Freyheit haͤtten? Und wer kan alſo glauben, daß hier die Regeln der Wahrſcheinlichkeit beobachtet werden.
Es iſt Zeit auf den Virgil zu kommen, und einige Fehler anzumercken, die er dawieder begangen. Von den Wun- dern, ſo er hie und da eingeſtreuet, iſt ſchon im vorigen Capitel gedacht; nur muß ich hinzuſetzen, daß Voltaire in ſeinen Gedancken vom Heldengedichte, dieſen Poeten dadurch ent- ſchuldigen wollen, daß ſchon Dionyſius von Halicarnaß, in ſeiner Hiſtorie der Harpyen ſowohl, als des Celeno und des Koͤniges Cacus gedacht; Virgil alſo Wahrſcheinlichkeit genug vor ſich gehabt habe. Allein erſtlich iſt es gewiß, daß dieſer Geſchichtſchreiber ſeinem eigenen Geſtaͤndniſſe nach, ſein Buch allererſt zwanzig Jahre nach geendigten Buͤrger- kriegen in Jtalien geſchrieben; als Virgil ſchon zehn oder zwoͤlf Jahre todt geweſen: So daß eher Dionyſius den Poeten, als dieſer jenen geleſen und gebrauchet haben kan. Geſetzt aber, zweytens, es waͤre ſo, wie Voltaire meynt; ſo wuͤrde doch eine unwahrſcheinliche Sache nicht wahrſchein- lich, wenn ſie gleich ein fabelhaffter Hiſtoricus erzehlet haͤtte. Zum Exempel, wer auch in Verßen alles das anbringen woll- te, was Herodotus erzehlet, der wuͤrde laͤcherlich dadurch werden. Die Verwandlung der Schiffe in Seenymphen, die er vermuthlich nur aus der gemeinen Sage der Leute her- genommen, haͤtte er auch erſparen koͤnnen, und meines Er- achtens hilft es nichts, daß er den Vers hinzugeſetzt:
Priſca fides facto, ſed fama perennis.
Denn warum muſte er alle Maͤhrchen, die er ſelbſt nicht glaubte, in ſein Heldengedichte bringen? Weit aͤrger hat in- deſſen Virgilius wieder die Wahrſcheinlichkeit verſtoßen, da
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Das VI. Capitel
wie auch den wunderwuͤrdigen Kuͤraß Diomedis, der ein
Meiſterſtuͤck des kuͤnſtlichen Vulcans iſt. Erobern wir
dieſe preiswuͤrdige Beute, ſo iſt kein Zweifel, die Griechen
werden ſich dieſe Nacht auf ihre noch uͤbrige Schiffe begeben,
und unſer Ufer verlaſſen. Scheint es hier nicht als wenn
Homerus ſeine Pferde den Menſchen gleich gemacht haͤtte,
indem er ſie auf eben die Art durch die Beredſamkeit lencken
laͤſt, als ob ſie Verſtand und Freyheit haͤtten? Und wer kan
alſo glauben, daß hier die Regeln der Wahrſcheinlichkeit
beobachtet werden.
Es iſt Zeit auf den Virgil zu kommen, und einige Fehler
anzumercken, die er dawieder begangen. Von den Wun-
dern, ſo er hie und da eingeſtreuet, iſt ſchon im vorigen Capitel
gedacht; nur muß ich hinzuſetzen, daß Voltaire in ſeinen
Gedancken vom Heldengedichte, dieſen Poeten dadurch ent-
ſchuldigen wollen, daß ſchon Dionyſius von Halicarnaß, in
ſeiner Hiſtorie der Harpyen ſowohl, als des Celeno und des
Koͤniges Cacus gedacht; Virgil alſo Wahrſcheinlichkeit
genug vor ſich gehabt habe. Allein erſtlich iſt es gewiß, daß
dieſer Geſchichtſchreiber ſeinem eigenen Geſtaͤndniſſe nach,
ſein Buch allererſt zwanzig Jahre nach geendigten Buͤrger-
kriegen in Jtalien geſchrieben; als Virgil ſchon zehn oder
zwoͤlf Jahre todt geweſen: So daß eher Dionyſius den
Poeten, als dieſer jenen geleſen und gebrauchet haben kan.
Geſetzt aber, zweytens, es waͤre ſo, wie Voltaire meynt; ſo
wuͤrde doch eine unwahrſcheinliche Sache nicht wahrſchein-
lich, wenn ſie gleich ein fabelhaffter Hiſtoricus erzehlet haͤtte.
Zum Exempel, wer auch in Verßen alles das anbringen woll-
te, was Herodotus erzehlet, der wuͤrde laͤcherlich dadurch
werden. Die Verwandlung der Schiffe in Seenymphen,
die er vermuthlich nur aus der gemeinen Sage der Leute her-
genommen, haͤtte er auch erſparen koͤnnen, und meines Er-
achtens hilft es nichts, daß er den Vers hinzugeſetzt:
Priſca fides facto, ſed fama perennis.
Denn warum muſte er alle Maͤhrchen, die er ſelbſt nicht
glaubte, in ſein Heldengedichte bringen? Weit aͤrger hat in-
deſſen Virgilius wieder die Wahrſcheinlichkeit verſtoßen, da
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/198>, abgerufen am 21.10.2024.
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