Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_074.001
Handlung selbst hervorgehn. Die äußere und innere Portraitmalerei der pgo_074.002
neuen Romanschriftsteller ist wenig künstlerisch. Wir wollen die runde pgo_074.003
Summe des Charakters nicht von Hause aus baar ausgezahlt erhalten; pgo_074.004
unsere Phantasie soll sie mitthätig durch ein Additionsexempel der einzelnen pgo_074.005
Posten aufbaun. Es liegt in jedem einzelnen Charakter etwas pgo_074.006
Unsagbares, eine unergründliche Tiefe, die aus den unberechenbaren pgo_074.007
Mischungsverhältnissen hervorgeht. Hier wird dem echten Dichter nie pgo_074.008
der rechte Schlüssel fehlen, auch dies Geheimnißvolle zu deuten und pgo_074.009
zu enthüllen.

pgo_074.010
Die Scheidung der Geschlechter, der Gegensatz von Mann und pgo_074.011
Weib, jene große Kluft der Natur, über welche sie die schönsten Brücken pgo_074.012
geschlagen, bietet dem Dichter den reichsten Stoff. Zunächst ist es der pgo_074.013
Contrast der männlichen und weiblichen Schönheit selbst, der für die pgo_074.014
dichterische Darstellung ergiebig wird. Dann aber treten als reichster pgo_074.015
Quell der Poesie die gegenseitigen Herzensbeziehungen der Geschlechter, pgo_074.016
die Liebe von der Neigung bis zur Leidenschaft hervor. Liebe ist vor pgo_074.017
Allen das Grundthema der Lyrik, deren bloßes Aufgehn in derselben pgo_074.018
indeß immer das Zeichen einer schwächlichen Zeit ist. Jn der That würden pgo_074.019
die ewigen Variationen über die Liebe unerträglich werden, wenn pgo_074.020
nicht durch den verschiedenen Geist der Zeit, die wechselnde Sitte der pgo_074.021
Völker und die scharf vortretende Originalität des dichterischen Genius pgo_074.022
einige Abwechslung in dies unerschöpfliche Thema käme. Liebeslyrik pgo_074.023
ohne scharf ausgeprägte dichterische Physiognomie bleibt immer unleidlich pgo_074.024
und die hauptsächlichste lyrische Makulatur. Welchen Reichthum aber pgo_074.025
der Genius in diese Empfindung legen kann: das haben von Sappho pgo_074.026
und Alkaeos, von Ovid, Tibull und Properz bis zu Petrarca und Hafis, pgo_074.027
Goethe und Heine die begabten Dichter aller Zeiten bewiesen. Jhrem pgo_074.028
Grundcharakter nach bleibt die Liebe immer lyrisch, und so bringt sie pgo_074.029
auch in das Drama, selbst in den Roman einen lyrischen Zug. Jn diesen pgo_074.030
beiden Dichtgattungen wird die Liebe vorzüglich im Kampf geschildert, pgo_074.031
im Kampfe mit der Pflicht, mit einer andern ethischen Liebe oder pgo_074.032
mit den realen Lebensverhältnissen -- man denke z. B. an Romeo und pgo_074.033
Julie, Max und Thekla, Werther. Jndeß eignet sich für den Roman pgo_074.034
noch mehr die Liebe als feste sittliche Jnstitution, in der Gestalt der Ehe, pgo_074.035
wo ihre Kämpfe einen tiefer in's Leben eingreifenden Jnhalt gewinnen.

pgo_074.001
Handlung selbst hervorgehn. Die äußere und innere Portraitmalerei der pgo_074.002
neuen Romanschriftsteller ist wenig künstlerisch. Wir wollen die runde pgo_074.003
Summe des Charakters nicht von Hause aus baar ausgezahlt erhalten; pgo_074.004
unsere Phantasie soll sie mitthätig durch ein Additionsexempel der einzelnen pgo_074.005
Posten aufbaun. Es liegt in jedem einzelnen Charakter etwas pgo_074.006
Unsagbares, eine unergründliche Tiefe, die aus den unberechenbaren pgo_074.007
Mischungsverhältnissen hervorgeht. Hier wird dem echten Dichter nie pgo_074.008
der rechte Schlüssel fehlen, auch dies Geheimnißvolle zu deuten und pgo_074.009
zu enthüllen.

pgo_074.010
Die Scheidung der Geschlechter, der Gegensatz von Mann und pgo_074.011
Weib, jene große Kluft der Natur, über welche sie die schönsten Brücken pgo_074.012
geschlagen, bietet dem Dichter den reichsten Stoff. Zunächst ist es der pgo_074.013
Contrast der männlichen und weiblichen Schönheit selbst, der für die pgo_074.014
dichterische Darstellung ergiebig wird. Dann aber treten als reichster pgo_074.015
Quell der Poesie die gegenseitigen Herzensbeziehungen der Geschlechter, pgo_074.016
die Liebe von der Neigung bis zur Leidenschaft hervor. Liebe ist vor pgo_074.017
Allen das Grundthema der Lyrik, deren bloßes Aufgehn in derselben pgo_074.018
indeß immer das Zeichen einer schwächlichen Zeit ist. Jn der That würden pgo_074.019
die ewigen Variationen über die Liebe unerträglich werden, wenn pgo_074.020
nicht durch den verschiedenen Geist der Zeit, die wechselnde Sitte der pgo_074.021
Völker und die scharf vortretende Originalität des dichterischen Genius pgo_074.022
einige Abwechslung in dies unerschöpfliche Thema käme. Liebeslyrik pgo_074.023
ohne scharf ausgeprägte dichterische Physiognomie bleibt immer unleidlich pgo_074.024
und die hauptsächlichste lyrische Makulatur. Welchen Reichthum aber pgo_074.025
der Genius in diese Empfindung legen kann: das haben von Sappho pgo_074.026
und Alkaeos, von Ovid, Tibull und Properz bis zu Petrarca und Hafis, pgo_074.027
Goethe und Heine die begabten Dichter aller Zeiten bewiesen. Jhrem pgo_074.028
Grundcharakter nach bleibt die Liebe immer lyrisch, und so bringt sie pgo_074.029
auch in das Drama, selbst in den Roman einen lyrischen Zug. Jn diesen pgo_074.030
beiden Dichtgattungen wird die Liebe vorzüglich im Kampf geschildert, pgo_074.031
im Kampfe mit der Pflicht, mit einer andern ethischen Liebe oder pgo_074.032
mit den realen Lebensverhältnissen — man denke z. B. an Romeo und pgo_074.033
Julie, Max und Thekla, Werther. Jndeß eignet sich für den Roman pgo_074.034
noch mehr die Liebe als feste sittliche Jnstitution, in der Gestalt der Ehe, pgo_074.035
wo ihre Kämpfe einen tiefer in's Leben eingreifenden Jnhalt gewinnen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0096" n="74"/><lb n="pgo_074.001"/>
Handlung selbst hervorgehn. Die äußere und innere Portraitmalerei der <lb n="pgo_074.002"/>
neuen Romanschriftsteller ist wenig künstlerisch. Wir wollen die runde <lb n="pgo_074.003"/>
Summe des Charakters nicht von Hause aus baar ausgezahlt erhalten; <lb n="pgo_074.004"/>
unsere Phantasie soll sie mitthätig durch ein Additionsexempel der einzelnen <lb n="pgo_074.005"/>
Posten aufbaun. Es liegt in jedem einzelnen Charakter etwas <lb n="pgo_074.006"/>
Unsagbares, eine unergründliche Tiefe, die aus den unberechenbaren <lb n="pgo_074.007"/>
Mischungsverhältnissen hervorgeht. Hier wird dem echten Dichter nie <lb n="pgo_074.008"/>
der rechte Schlüssel fehlen, auch dies Geheimnißvolle zu deuten und <lb n="pgo_074.009"/>
zu enthüllen.</p>
              <p><lb n="pgo_074.010"/>
Die Scheidung der <hi rendition="#g">Geschlechter,</hi> der Gegensatz von Mann und <lb n="pgo_074.011"/>
Weib, jene große Kluft der Natur, über welche sie die schönsten Brücken <lb n="pgo_074.012"/>
geschlagen, bietet dem Dichter den reichsten Stoff. Zunächst ist es der <lb n="pgo_074.013"/>
Contrast der männlichen und weiblichen Schönheit selbst, der für die <lb n="pgo_074.014"/>
dichterische Darstellung ergiebig wird. Dann aber treten als reichster <lb n="pgo_074.015"/>
Quell der Poesie die gegenseitigen Herzensbeziehungen der Geschlechter, <lb n="pgo_074.016"/>
die <hi rendition="#g">Liebe</hi> von der Neigung bis zur Leidenschaft hervor. Liebe ist vor <lb n="pgo_074.017"/>
Allen das Grundthema der Lyrik, deren bloßes Aufgehn in derselben <lb n="pgo_074.018"/>
indeß immer das Zeichen einer schwächlichen Zeit ist. Jn der That würden <lb n="pgo_074.019"/>
die ewigen Variationen über die Liebe unerträglich werden, wenn <lb n="pgo_074.020"/>
nicht durch den verschiedenen Geist der Zeit, die wechselnde Sitte der <lb n="pgo_074.021"/>
Völker und die scharf vortretende Originalität des dichterischen Genius <lb n="pgo_074.022"/>
einige Abwechslung in dies unerschöpfliche Thema käme. Liebeslyrik <lb n="pgo_074.023"/>
ohne scharf ausgeprägte dichterische Physiognomie bleibt immer unleidlich <lb n="pgo_074.024"/>
und die hauptsächlichste lyrische Makulatur. Welchen Reichthum aber <lb n="pgo_074.025"/>
der Genius in diese Empfindung legen kann: das haben von Sappho <lb n="pgo_074.026"/>
und Alkaeos, von Ovid, Tibull und Properz bis zu Petrarca und Hafis, <lb n="pgo_074.027"/>
Goethe und Heine die begabten Dichter aller Zeiten bewiesen. Jhrem <lb n="pgo_074.028"/>
Grundcharakter nach bleibt die Liebe immer <hi rendition="#g">lyrisch,</hi> und so bringt sie <lb n="pgo_074.029"/>
auch in das Drama, selbst in den Roman einen lyrischen Zug. Jn diesen <lb n="pgo_074.030"/>
beiden Dichtgattungen wird die Liebe vorzüglich im Kampf geschildert, <lb n="pgo_074.031"/>
im Kampfe mit der Pflicht, mit einer andern ethischen Liebe oder <lb n="pgo_074.032"/>
mit den realen Lebensverhältnissen &#x2014; man denke z. B. an Romeo und <lb n="pgo_074.033"/>
Julie, Max und Thekla, Werther. Jndeß eignet sich für den Roman <lb n="pgo_074.034"/>
noch mehr die Liebe als feste sittliche Jnstitution, in der Gestalt der <hi rendition="#g">Ehe,</hi> <lb n="pgo_074.035"/>
wo ihre Kämpfe einen tiefer in's Leben eingreifenden Jnhalt gewinnen.
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0096] pgo_074.001 Handlung selbst hervorgehn. Die äußere und innere Portraitmalerei der pgo_074.002 neuen Romanschriftsteller ist wenig künstlerisch. Wir wollen die runde pgo_074.003 Summe des Charakters nicht von Hause aus baar ausgezahlt erhalten; pgo_074.004 unsere Phantasie soll sie mitthätig durch ein Additionsexempel der einzelnen pgo_074.005 Posten aufbaun. Es liegt in jedem einzelnen Charakter etwas pgo_074.006 Unsagbares, eine unergründliche Tiefe, die aus den unberechenbaren pgo_074.007 Mischungsverhältnissen hervorgeht. Hier wird dem echten Dichter nie pgo_074.008 der rechte Schlüssel fehlen, auch dies Geheimnißvolle zu deuten und pgo_074.009 zu enthüllen. pgo_074.010 Die Scheidung der Geschlechter, der Gegensatz von Mann und pgo_074.011 Weib, jene große Kluft der Natur, über welche sie die schönsten Brücken pgo_074.012 geschlagen, bietet dem Dichter den reichsten Stoff. Zunächst ist es der pgo_074.013 Contrast der männlichen und weiblichen Schönheit selbst, der für die pgo_074.014 dichterische Darstellung ergiebig wird. Dann aber treten als reichster pgo_074.015 Quell der Poesie die gegenseitigen Herzensbeziehungen der Geschlechter, pgo_074.016 die Liebe von der Neigung bis zur Leidenschaft hervor. Liebe ist vor pgo_074.017 Allen das Grundthema der Lyrik, deren bloßes Aufgehn in derselben pgo_074.018 indeß immer das Zeichen einer schwächlichen Zeit ist. Jn der That würden pgo_074.019 die ewigen Variationen über die Liebe unerträglich werden, wenn pgo_074.020 nicht durch den verschiedenen Geist der Zeit, die wechselnde Sitte der pgo_074.021 Völker und die scharf vortretende Originalität des dichterischen Genius pgo_074.022 einige Abwechslung in dies unerschöpfliche Thema käme. Liebeslyrik pgo_074.023 ohne scharf ausgeprägte dichterische Physiognomie bleibt immer unleidlich pgo_074.024 und die hauptsächlichste lyrische Makulatur. Welchen Reichthum aber pgo_074.025 der Genius in diese Empfindung legen kann: das haben von Sappho pgo_074.026 und Alkaeos, von Ovid, Tibull und Properz bis zu Petrarca und Hafis, pgo_074.027 Goethe und Heine die begabten Dichter aller Zeiten bewiesen. Jhrem pgo_074.028 Grundcharakter nach bleibt die Liebe immer lyrisch, und so bringt sie pgo_074.029 auch in das Drama, selbst in den Roman einen lyrischen Zug. Jn diesen pgo_074.030 beiden Dichtgattungen wird die Liebe vorzüglich im Kampf geschildert, pgo_074.031 im Kampfe mit der Pflicht, mit einer andern ethischen Liebe oder pgo_074.032 mit den realen Lebensverhältnissen — man denke z. B. an Romeo und pgo_074.033 Julie, Max und Thekla, Werther. Jndeß eignet sich für den Roman pgo_074.034 noch mehr die Liebe als feste sittliche Jnstitution, in der Gestalt der Ehe, pgo_074.035 wo ihre Kämpfe einen tiefer in's Leben eingreifenden Jnhalt gewinnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/96
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/96>, abgerufen am 23.11.2024.