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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Lessing's "Nathan," Goethe's "Jphigenie" und "Faust" eine Reihe von pgo_473.002
Musterdramen auf, welche in diese Kategorie des Schauspiels gehören. pgo_473.003
Jn der That ist nicht abzusehn, warum nicht auch die ideale Dichtung pgo_473.004
aus dem Kampfe des Lebens zu einem versöhnenden Ausgange führen pgo_473.005
sollte, zu einem heitern Abschluß, der alle Dissonanzen löst. Dennoch pgo_473.006
wird das Schauspiel stets an einer Unsicherheit des Styles leiden, wie pgo_473.007
denn auch die Hälfte jener Stücke theils in's Lustspiel, theils in die Tragödie pgo_473.008
hinüberschwankt. Bei den Alten führte ein deus ex machina, pgo_473.009
eine göttliche Sühne den versöhnenden Ausgang herbei, der auch im pgo_473.010
neuern idealen Schauspiel nicht ohne eine bedeutsame innere Wandlung pgo_473.011
und Wendung des Helden eintreten kann, welche doch nur für bestimmte pgo_473.012
Stoffe des Gedankendrama möglich scheint. Die Gefahr dieser Gattung pgo_473.013
tritt daher an ihrer beliebtesten Form, dem bürgerlichen Schauspiel, pgo_473.014
am meisten hervor, indem hier ernste, meistens kriminalistische Konflikte pgo_473.015
des Lebens zu einem versöhnenden Ausgang führen, in welchem nur pgo_473.016
die schlechte Weinerlichkeit einer charakterlosen Rührung triumphirt. Den pgo_473.017
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einer Vorstellung von Jffland's "Verbrechen aus Ehrsucht" äußerte: pgo_473.019
"ich würde nicht so gelinde mit Ruhberg umgehn, wie der Verfasser." pgo_473.020
Die Abstumpfung des Konflikts, die Vertuschung des Verbrechens und pgo_473.021
die innere Besserung, ein Moment, das dramatisch gar nicht zur pgo_473.022
Gestaltung kommen kann, sind diesem Schauspiele durchaus wesentlich. pgo_473.023
Die Befriedigung, die das Publikum aus seinem versöhnenden Ausgange pgo_473.024
mit nach Hause bringt, ist daher eine höchst mangelhafte. Oder wer pgo_473.025
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Charakterbilder neigten sich in diese dramatische Sphäre herüber, pgo_473.029
welche Diderot selbstständig anbaute, und die dem deutschen Familiensinn, pgo_473.030
trotz des energischen Verdammungsurtheils, das unser größter Dramatiker pgo_473.031
ihr zuschleuderte, vorzugsweise zusagt. Nur dies bürgerliche pgo_473.032
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hat sich auch einen eigenthümlichen Styl gebildet, eine pgo_473.033
triviale Prosa, die alle hausbackenen Beziehungen des Lebens, den ganzen pgo_473.034
kriminalistischen Jargon und die Langeweile der Moralpredigt gleichmäßig pgo_473.035
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[473/0495] pgo_473.001 Lessing's „Nathan,“ Goethe's „Jphigenie“ und „Faust“ eine Reihe von pgo_473.002 Musterdramen auf, welche in diese Kategorie des Schauspiels gehören. pgo_473.003 Jn der That ist nicht abzusehn, warum nicht auch die ideale Dichtung pgo_473.004 aus dem Kampfe des Lebens zu einem versöhnenden Ausgange führen pgo_473.005 sollte, zu einem heitern Abschluß, der alle Dissonanzen löst. Dennoch pgo_473.006 wird das Schauspiel stets an einer Unsicherheit des Styles leiden, wie pgo_473.007 denn auch die Hälfte jener Stücke theils in's Lustspiel, theils in die Tragödie pgo_473.008 hinüberschwankt. Bei den Alten führte ein deus ex machina, pgo_473.009 eine göttliche Sühne den versöhnenden Ausgang herbei, der auch im pgo_473.010 neuern idealen Schauspiel nicht ohne eine bedeutsame innere Wandlung pgo_473.011 und Wendung des Helden eintreten kann, welche doch nur für bestimmte pgo_473.012 Stoffe des Gedankendrama möglich scheint. Die Gefahr dieser Gattung pgo_473.013 tritt daher an ihrer beliebtesten Form, dem bürgerlichen Schauspiel, pgo_473.014 am meisten hervor, indem hier ernste, meistens kriminalistische Konflikte pgo_473.015 des Lebens zu einem versöhnenden Ausgang führen, in welchem nur pgo_473.016 die schlechte Weinerlichkeit einer charakterlosen Rührung triumphirt. Den pgo_473.017 wunden Fleck dieses Schauspiels hat Kaiser Joseph berührt, der nach pgo_473.018 einer Vorstellung von Jffland's „Verbrechen aus Ehrsucht“ äußerte: pgo_473.019 „ich würde nicht so gelinde mit Ruhberg umgehn, wie der Verfasser.“ pgo_473.020 Die Abstumpfung des Konflikts, die Vertuschung des Verbrechens und pgo_473.021 die innere Besserung, ein Moment, das dramatisch gar nicht zur pgo_473.022 Gestaltung kommen kann, sind diesem Schauspiele durchaus wesentlich. pgo_473.023 Die Befriedigung, die das Publikum aus seinem versöhnenden Ausgange pgo_473.024 mit nach Hause bringt, ist daher eine höchst mangelhafte. Oder wer pgo_473.025 würde die rührenden Familiengruppen in Kotzebue's „Menschenhaß und pgo_473.026 Reue,“ die eheliche Versöhnung in „Dorf und Stadt“ der Frau Birch pgo_473.027 für einen harmonischen Abschluß halten? Schon Molière's und Jonson's pgo_473.028 Charakterbilder neigten sich in diese dramatische Sphäre herüber, pgo_473.029 welche Diderot selbstständig anbaute, und die dem deutschen Familiensinn, pgo_473.030 trotz des energischen Verdammungsurtheils, das unser größter Dramatiker pgo_473.031 ihr zuschleuderte, vorzugsweise zusagt. Nur dies bürgerliche pgo_473.032 Schauspiel hat sich auch einen eigenthümlichen Styl gebildet, eine pgo_473.033 triviale Prosa, die alle hausbackenen Beziehungen des Lebens, den ganzen pgo_473.034 kriminalistischen Jargon und die Langeweile der Moralpredigt gleichmäßig pgo_473.035 wiederzuspiegeln vermag. Einige gelungene Charakterbilder und die

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/495>, abgerufen am 23.11.2024.