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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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keine Sentenz Shakespeare's den Charakter ihres Dichters, gleichgültig, pgo_443.002
wem er sie in den Mund gelegt. Dagegen darf man ihm nachrühmen, pgo_443.003
daß seine Sentenzen stets aus der bestimmten Situation hervorgehn, pgo_443.004
wenn auch ihr Luxus keineswegs im Verhältniß zur Bedeutung derselben pgo_443.005
steht. So ist es ganz natürlich und einleuchtend, daß Polonius seinem pgo_443.006
in die Weltstadt Paris reisenden Sohn einen großen Vorrath schätzbarer pgo_443.007
Maximen in Bezug auf die Diätetik der Seele mit auf den Weg giebt; pgo_443.008
aber diese Reise des Laertes ist selbst von so geringer Wichtigkeit für die pgo_443.009
Haupthandlung des Stückes, daß wir jene Fülle väterlicher Weisheit für pgo_443.010
einen dramatisch unnöthigen Aufwand erklären müssen. Auch Schiller ist pgo_443.011
mit seinen Sentenzen stets bei der Sache; nur ertödtet er bisweilen durch pgo_443.012
eine Sentenz den warmen Ausdruck des unmittelbaren Gefühls. Wenn pgo_443.013
Thekla ihren bekannten Monolog mit den Worten schließt:

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Das ist das Loos des Schönen auf der Erde!

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so liegt in dieser allgemeinen Wendung bereits eine Besinnung und Beruhigung, pgo_443.016
die zum Ausdruck der aufgeregten Empfindung nicht passen pgo_443.017
will, dem sie in etwas schroffer und unvermittelter Weise angehängt ist.

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Für die Tragödie paßt als sprachliche Form der Vers. Die Versuche, pgo_443.019
sie von seinem Kothurn herunter in das prosaische Gebiet zu verpflanzen, pgo_443.020
haben nur eine vorübergehende, keine maaßgebende Bedeutung, indem sie pgo_443.021
in Uebergangsepochen die charakteristische Verjüngung eines durch stereotype pgo_443.022
Versmanier abgeschwächten Styles beabsichtigen und erreichen pgo_443.023
können. Die neue bürgerliche Tragödie bedient sich ebenfalls der Prosa, pgo_443.024
obwohl eine nicht allzu äußerliche und prosaische Bürgerlichkeit auch den pgo_443.025
Vers vertrüge, dessen Jdealität überhaupt dem Adel, der Würde, dem pgo_443.026
ernsten Gang und der geistigen Tiefe der Tragödie entspricht. Die griechischen pgo_443.027
Tragiker bedienten sich bekanntlich des Trimeters, dessen feierliche pgo_443.028
Plastik der charaktervollen Beweglichkeit unserer Tragödie nicht entspricht. pgo_443.029
Ebensowenig paßt für sie der vierfüßige Trochäus der spanischen in seinem pgo_443.030
Wechsel mit reimüppigen Sonetten und Stanzen. Der gereimte Alexandriner pgo_443.031
der Franzosen würde in seinem monotonen Gang an eine überwundene pgo_443.032
Entwickelungsstufe unserer Literatur erinnern. Dagegen ist der pgo_443.033
fünffüßige reimlose Jambus (blanc-vers) der Engländer und Jtaliener pgo_443.034
mit Recht bei uns eingebürgert, indem er Ungezwungenheit, dramatische

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sie von seinem Kothurn herunter in das prosaische Gebiet zu verpflanzen, pgo_443.020
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Entwickelungsstufe unserer Literatur erinnern. Dagegen ist der pgo_443.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/465>, abgerufen am 18.05.2024.