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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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sich durch die Anschauung eines uns vorgeführten großen Unglückes doppelt pgo_439.002
belebe und uns das erhöhte egoistische Gefühl unseres Glückes pgo_439.003
gewähre. Eine so äußerliche Erklärung muß aus der Kunstlehre verbannt pgo_439.004
bleiben, wenn sie auch für einen nicht unbedeutenden Theil des pgo_439.005
Publikums Geltung haben dürfte. Das in die Regelmäßigkeit, in die pgo_439.006
ununterbrochene Behaglichkeit des Daseins eingewiegte Philisterthum pgo_439.007
wird durch die Vorführungen der Tragödie an die großen Krisen des pgo_439.008
Erdenlebens gemahnt, emporgeschüttelt aus seiner trägen Ruhe, in ein pgo_439.009
aufregendes Unbehagen versetzt, welches als wohlthätige Erschütterung pgo_439.010
wirkt und von ihm bald durch die trostreiche Zuversicht überwunden pgo_439.011
wird, daß die kalten Schläge der Tragödie an seinem häuslichen Herd pgo_439.012
nicht zünden. Blasirte Gemüther aber lassen sich durch die Aufregungen pgo_439.013
der Tragödie auf Augenblicke von ihrer Lähmung heilen, ähnlich wie körperlich pgo_439.014
Gelähmte ihre Glieder in das Blut der hingeschlachteten Thiere pgo_439.015
tauchen. Nicht genug betont wird ferner der Pessimismus des pgo_439.016
menschlichen Gemüthes, der vom dunkeln Zusammenhang der Grausamkeit pgo_439.017
und Wollust, der kitzelnden Freude an rohen Exekutionen und Schaustellungen pgo_439.018
noch zu unterscheiden ist. Es liegt eine eigenthümliche Konsequenzmacherei pgo_439.019
in der menschlichen Seele, es ist ihr eine Beruhigung, pgo_439.020
wenn das halbe Unglück zum ganzen, das kleine zum großen wird, als pgo_439.021
wenn es dadurch in eine Sphäre gehoben würde, in welcher seine ängstlich pgo_439.022
bedrückende Wirkung sich in eine großartig zerschmetternde verwandelt, pgo_439.023
in welcher das Schicksal den Menschen erhebt, indem es ihn zermalmt. pgo_439.024
Hier kommen wir dem ästhetischen Kreise, den Wirkungen des pgo_439.025
tragischen Kunstwerkes schon näher. Jener Pessimismus ist der dunkle pgo_439.026
Grund des Gemüthes, auf den die Sonne der tragischen Kunst ihre Lichtbilder pgo_439.027
zeichnet. Mit Furcht, mit ängstlicher Spannung befinden wir uns pgo_439.028
von Anfang an im Bann der Tragödie, auf einem vulkanischen Boden, pgo_439.029
dessen Eruptionen sich von allen Seiten ankündigen. Diese Spannung pgo_439.030
hat zugleich etwas Anregendes! Die Zauberin Phantasie, der stets ein pgo_439.031
kleiner hyperbolischer Dämon zur Seite steht, hat in ihrem Vergrößerungsspiegel pgo_439.032
bereits das drohende Unglück mit pessimistischer Freude ausgemalt pgo_439.033
und frohlockt, wenn sich ihre Ahnungen Schlag auf Schlag erfüllen! pgo_439.034
Das Mitleid mit dem Geschick des Helden geht in rein menschlicher pgo_439.035
Weise damit Hand in Hand! Doch diese Affekte werden von der

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/461>, abgerufen am 22.11.2024.