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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Schmerz der Seele mit der ganzen Kraft seines Genius offenbaren! Das pgo_433.002
ist ja die berechtigte Magie der Dichtkunst:

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Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, pgo_433.004
Gab ihm ein Gott zu sagen was er leide!

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Bei Sophokles und Euripides, bei Calderon, Shakespeare und pgo_433.006
Schiller finden wir im Dialog diesen vollen Ausdruck des dramatischen pgo_433.007
Pathos, und keine falsche Theorie der Naturwahrheit wird uns jene pgo_433.008
Lakonismen des Dialogs als alleinberechtigt aufzudrängen vermögen, pgo_433.009
hinter denen sich nur ausnahmsweise dramatische Energie, in der Regel pgo_433.010
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hinabzusteigen.

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Was nun die äußere Technik des Drama betrifft, so darf man pgo_433.013
von ihm verlangen, daß es bühnengerecht sei, um sich jener Oeffentlichkeit pgo_433.014
zu erfreuen, die sein wahres Lebenselement ist. Das Drama pgo_433.015
gehört auf die Bühne der Gegenwart. Wenn seine innere Technik den pgo_433.016
eben angeführten Bestimmungen entspricht: so wird ihm auch der theatralische pgo_433.017
Erfolg nicht fehlen, der eine regelrechte Anlage und spannende pgo_433.018
Durchführung stets begleitet. Dennoch müssen auch einige äußere Hemmnisse pgo_433.019
beseitigt werden, welche die Jnscenirung erschweren. Die Länge pgo_433.020
einer darstellbaren Tragödie oder eines Lustspieles darf bei der Aufführung pgo_433.021
nicht das Maaß von drei Stunden überschreiten. Man mag immerhin pgo_433.022
mit Hamlet's Jronie über diese Vorschrift die Achseln zucken und von pgo_433.023
einem solchen Stücke sagen: "es soll mit eurem Bart zum Barbier;" pgo_433.024
man mag sich auf die großen Werke Shakespeare's und Schiller's berufen, pgo_433.025
die trotz ihrer Länge nicht nur bühnenfähig geblieben, sondern auch pgo_433.026
unsterblich geworden sind; man mag an den Rothstift des Regisseurs pgo_433.027
und der Schauspieler appelliren -- wir weisen nur darauf hin, daß solche pgo_433.028
Stücke, wie Schiller's "Carlos," Shakespeare's "Hamlet" u. a. in ihrer pgo_433.029
jetzigen Bühneneinrichtung verstümmelt sind, indem für den Zusammenhang pgo_433.030
wesentliche Motivirungen fortgelassen werden; wir räumen gern ein, pgo_433.031
daß es ein Theaterpublikum gegeben hat oder geben wird, welches ganze pgo_433.032
Tage und Nächte vor der Bühne ausharrt; aber wir sprechen nur vom pgo_433.033
Publikum und der Bühne der Gegenwart. Ein Stück, dessen Aufführung pgo_433.034
drei Stunden überdauert, ermüdet die Aufmerksamkeit unseres

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Schmerz der Seele mit der ganzen Kraft seines Genius offenbaren! Das pgo_433.002
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Gab ihm ein Gott zu sagen was er leide!

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geistige Armuth und die Unfähigkeit verbirgt, in die Tiefen der Seele pgo_433.011
hinabzusteigen.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/455>, abgerufen am 19.05.2024.