Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_430.001 *) pgo_430.030
Das Wesen des Theaterkoups hat der Stagirit sehr schlagend ausgedrückt, wenn pgo_430.031 er sagt, daß die Tragödie vorzugsweise dann ihren Zweck erreicht, otan genetai para pgo 430.032 ten doxan kai mallon, otan di \allela, "wenn die Begebenheiten wider Vermuthen pgo_430.033 und doch aus einander entstehn." (Poet. c. 9.) Jn der That beruht auf dieser pgo_430.034 Vereinigung des Ueberraschenden und doch wohl Motivirten die berechtigte pgo_430.035 dramatische Wirkung. pgo_430.001 *) pgo_430.030
Das Wesen des Theaterkoups hat der Stagirit sehr schlagend ausgedrückt, wenn pgo_430.031 er sagt, daß die Tragödie vorzugsweise dann ihren Zweck erreicht, ὁταν γένηται παρα pgo 430.032 τὴν δόξαν καὶ μᾶλλον, ὅταν δί \̓αλληλα, „wenn die Begebenheiten wider Vermuthen pgo_430.033 und doch aus einander entstehn.“ (Poet. c. 9.) Jn der That beruht auf dieser pgo_430.034 Vereinigung des Ueberraschenden und doch wohl Motivirten die berechtigte pgo_430.035 dramatische Wirkung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0452" n="430"/><lb n="pgo_430.001"/> Schlußakt des „Macbeth“ und „Hamlet“ von echt dramatischer Steigerung. <lb n="pgo_430.002"/> Wir haben die Beispiele für die kunstgerechte Gliederung des <lb n="pgo_430.003"/> Drama aus dem Bereich der Tragödie genommen; wir hätten sie ebensogut <lb n="pgo_430.004"/> aus dem Kreise des Lustspiels nehmen können, nur daß hier die <lb n="pgo_430.005"/> Peripetie und Katastrophe eine andere Bedeutung gewinnt. Jn Scribe's <lb n="pgo_430.006"/> „Glas Wasser“ z. B. giebt der erste Akt eine klare und lebendige Exposition. <lb n="pgo_430.007"/> Am Schluß des dritten Aktes steht die dramatische Partie so <lb n="pgo_430.008"/> <hi rendition="#g">kritisch,</hi> daß Abigail sie für verloren, Bolingbroke für gewonnen erklärt. <lb n="pgo_430.009"/> Der vierte Aufzug aber führt durch das berühmte Glas Wasser die Peripetie <lb n="pgo_430.010"/> des Lustspieles herbei, während der fünfte Akt noch durch mancherlei <lb n="pgo_430.011"/> spannend verschlungene Fäden zur glücklichen Katastrophe eilt, d. h. zur <lb n="pgo_430.012"/> befriedigenden Lösung aller geschürzten Knoten und zur vollkommenen <lb n="pgo_430.013"/> Darlegung des schalkhaft ironischen Grundgedankens. Ohne diese Präcision <lb n="pgo_430.014"/> der dramatischen Gliederung, ohne diese Steigerung der Handlung, <lb n="pgo_430.015"/> die Schürzung und Lösung des Knotens, ohne die an richtiger Stelle eintretende <lb n="pgo_430.016"/> Krisis, Peripetie und Katastrophe wird das Drama leicht in das <lb n="pgo_430.017"/> epische Gebiet hinüberschielen und nicht jene energische Spann- und <lb n="pgo_430.018"/> Schlagkraft gewinnen, die seiner gedrungenen Form und ihrer logischen <lb n="pgo_430.019"/> Konsequenz eigenthümlich ist. Wohl werden Ausnahmen von diesen <lb n="pgo_430.020"/> allgemeinen Bestimmungen eintreten, wenn es die Behandlung eines <lb n="pgo_430.021"/> besondern Stoffes mit sich bringt; aber der dramatische Gang wird durch <lb n="pgo_430.022"/> diese Regeln markirt, und es wird stets bedenklich bleiben, die vorgeschriebene <lb n="pgo_430.023"/> Etappenstraße des Drama zu verlassen und romantische Seitenwege <lb n="pgo_430.024"/> einzuschlagen. Als ein Hauptkunstgriff der dramatischen Technik <lb n="pgo_430.025"/> gilt der <hi rendition="#g">Theaterkoup,</hi> die dramatische oder theatralische <hi rendition="#g">Ueberraschung</hi><note xml:id="PGO_430_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_430.030"/> Das Wesen des Theaterkoups hat der Stagirit sehr schlagend ausgedrückt, wenn <lb n="pgo_430.031"/> er sagt, daß die Tragödie vorzugsweise dann ihren Zweck erreicht, <foreign xml:lang="grc">ὁταν γένηται παρα</foreign> <lb n="pgo 430.032"/> <foreign xml:lang="grc">τὴν δόξαν καὶ μᾶλλον, ὅταν δί \̓αλληλα</foreign>, „wenn die Begebenheiten <hi rendition="#g">wider Vermuthen</hi> <lb n="pgo_430.033"/> und doch <hi rendition="#g">aus einander</hi> entstehn.“ (Poet. c. 9.) Jn der That beruht auf dieser <lb n="pgo_430.034"/> Vereinigung des <hi rendition="#g">Ueberraschenden</hi> und doch wohl <hi rendition="#g">Motivirten</hi> die berechtigte <lb n="pgo_430.035"/> dramatische Wirkung.</note>. <lb n="pgo_430.026"/> Die letztere, die in einer unverhofften <hi rendition="#g">scenischen</hi> Entwickelung <lb n="pgo_430.027"/> besteht, gehört nur in das Gebiet der Oper, des Ballets und <lb n="pgo_430.028"/> der Posse. Was die erstere betrifft: so sind die romanhaften Ueberraschungen, <lb n="pgo_430.029"/> die in unerwarteten Enthüllungen bestehn, von der Schwelle </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [430/0452]
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Schlußakt des „Macbeth“ und „Hamlet“ von echt dramatischer Steigerung. pgo_430.002
Wir haben die Beispiele für die kunstgerechte Gliederung des pgo_430.003
Drama aus dem Bereich der Tragödie genommen; wir hätten sie ebensogut pgo_430.004
aus dem Kreise des Lustspiels nehmen können, nur daß hier die pgo_430.005
Peripetie und Katastrophe eine andere Bedeutung gewinnt. Jn Scribe's pgo_430.006
„Glas Wasser“ z. B. giebt der erste Akt eine klare und lebendige Exposition. pgo_430.007
Am Schluß des dritten Aktes steht die dramatische Partie so pgo_430.008
kritisch, daß Abigail sie für verloren, Bolingbroke für gewonnen erklärt. pgo_430.009
Der vierte Aufzug aber führt durch das berühmte Glas Wasser die Peripetie pgo_430.010
des Lustspieles herbei, während der fünfte Akt noch durch mancherlei pgo_430.011
spannend verschlungene Fäden zur glücklichen Katastrophe eilt, d. h. zur pgo_430.012
befriedigenden Lösung aller geschürzten Knoten und zur vollkommenen pgo_430.013
Darlegung des schalkhaft ironischen Grundgedankens. Ohne diese Präcision pgo_430.014
der dramatischen Gliederung, ohne diese Steigerung der Handlung, pgo_430.015
die Schürzung und Lösung des Knotens, ohne die an richtiger Stelle eintretende pgo_430.016
Krisis, Peripetie und Katastrophe wird das Drama leicht in das pgo_430.017
epische Gebiet hinüberschielen und nicht jene energische Spann- und pgo_430.018
Schlagkraft gewinnen, die seiner gedrungenen Form und ihrer logischen pgo_430.019
Konsequenz eigenthümlich ist. Wohl werden Ausnahmen von diesen pgo_430.020
allgemeinen Bestimmungen eintreten, wenn es die Behandlung eines pgo_430.021
besondern Stoffes mit sich bringt; aber der dramatische Gang wird durch pgo_430.022
diese Regeln markirt, und es wird stets bedenklich bleiben, die vorgeschriebene pgo_430.023
Etappenstraße des Drama zu verlassen und romantische Seitenwege pgo_430.024
einzuschlagen. Als ein Hauptkunstgriff der dramatischen Technik pgo_430.025
gilt der Theaterkoup, die dramatische oder theatralische Ueberraschung *). pgo_430.026
Die letztere, die in einer unverhofften scenischen Entwickelung pgo_430.027
besteht, gehört nur in das Gebiet der Oper, des Ballets und pgo_430.028
der Posse. Was die erstere betrifft: so sind die romanhaften Ueberraschungen, pgo_430.029
die in unerwarteten Enthüllungen bestehn, von der Schwelle
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Das Wesen des Theaterkoups hat der Stagirit sehr schlagend ausgedrückt, wenn pgo_430.031
er sagt, daß die Tragödie vorzugsweise dann ihren Zweck erreicht, ὁταν γένηται παρα pgo 430.032
τὴν δόξαν καὶ μᾶλλον, ὅταν δί \̓αλληλα, „wenn die Begebenheiten wider Vermuthen pgo_430.033
und doch aus einander entstehn.“ (Poet. c. 9.) Jn der That beruht auf dieser pgo_430.034
Vereinigung des Ueberraschenden und doch wohl Motivirten die berechtigte pgo_430.035
dramatische Wirkung.
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