pgo_021.005 Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang pgo_021.006 zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache pgo_021.007 und Wirkung verstrickt. Jede Ursache hat eine Wirkung und ist selbst die pgo_021.008 Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen pgo_021.009 nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser pgo_021.010 Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die pgo_021.011 rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht:
pgo_021.012
Jn der Begierde such' ich nach Genußpgo_021.013 Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.
pgo_021.014 Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; pgo_021.015 der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte pgo_021.016 Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur pgo_021.017 wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der pgo_021.018 Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen pgo_021.019 und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet pgo_021.020 sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in pgo_021.021 seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject pgo_021.022 mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt pgo_021.023 Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis, pgo_021.024 Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart pgo_021.025 der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die pgo_021.026 Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, pgo_021.027 die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee
pgo_021.001 Erstes Hauptstück.
pgo_021.002
Die Poesie im System der Künste.
pgo_021.003
Erster Abschnitt.
pgo_021.004 Das Schöne und die Kunst.
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Jn der Begierde such' ich nach Genußpgo_021.013 Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.
pgo_021.014 Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; pgo_021.015 der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte pgo_021.016 Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur pgo_021.017 wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der pgo_021.018 Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen pgo_021.019 und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet pgo_021.020 sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in pgo_021.021 seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject pgo_021.022 mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt pgo_021.023 Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis, pgo_021.024 Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart pgo_021.025 der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die pgo_021.026 Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, pgo_021.027 die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/43>, abgerufen am 22.07.2024.
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