Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_356.001
Bildners. Die Behandlungsweise ist nicht Ossianisch nebelhaft, sondern pgo_356.002
von jener frostigen Klarheit und scharfen Zeichnung, wie sie dem starren pgo_356.003
Winter des baltischen Nordens eigen ist.



pgo_356.004
Dritter Abschnitt.
pgo_356.005
Das Kunstepos.

pgo_356.006
Unter Kunstepos verstehn wir, im Gegensatze zur Volksepopöe, pgo_356.007
die Nachdichtungen derselben in einer späteren Zeit, in welcher das goldene pgo_356.008
Zeitalter der Kultur, der naive Glauben an die Macht der Götter pgo_356.009
und die Größe der Helden dahingeschwunden war und die Phantasie der pgo_356.010
Dichter jene fehlende Frische und Unmittelbarkeit durch ihre Erfindungen pgo_356.011
zu ersetzen suchte. Als Kunstwerk steht die Volksepopöe, besonders die pgo_356.012
Homerische, hoch über ihren Nachdichtungen. Das "Kunstepos" ist pgo_356.013
nicht künstlerischer, sondern nur kunstvoller. Die Epopöe sammelt die pgo_356.014
Sagen des Volkes und alle Ueberlieferungen in einer organischen Einheit; pgo_356.015
das Epos ergreift einen Stoff der geschichtlichen Welt oder der pgo_356.016
Tradition, die aber nur bestimmten Lebenskreisen, nicht dem ganzen Volke pgo_356.017
angehört, und schmückt ihn mit Zügen willkürlicher, dichterischer Erfindung pgo_356.018
aus. Das Genie eines Homer, Firdusi und Ossian ist größer, pgo_356.019
als das eines Tasso, Camoens und Milton; denn der Maaßstab pgo_356.020
der heutigen Tages überschätzten dichterischen Erfindungskraft genügt nicht pgo_356.021
für das tiefere Wesen des Genies. Die Bedeutung jener großen Volksdichter pgo_356.022
liegt aber darin, daß der Geist ihrer Nation und ihres Jahrhunderts pgo_356.023
in ihnen unmittelbar lebendig war, daß der schöpferische Jnstinkt pgo_356.024
ihrer Phantasie mit dem politischen und religiösen ihres Zeitalters zusammenfiel, pgo_356.025
während die Sänger der Kunstepen eine bereits fertige Kulturwelt pgo_356.026
mit unwesentlichen Erfindungen bereicherten. Wohl sind die Epiker pgo_356.027
der romanischen Völker Nationaldichter geworden, aber nicht Volks- pgo_356.028
dichter im Sinne Homer's. Nur der große Dante hat die Plastik des pgo_356.029
Katholicismus mit einer epischen Gewaltigkeit herausgebildet, die ihn pgo_356.030
jenen ursprünglichen Volksdichtern nähert. Ueberhaupt steht das religiöse pgo_356.031
Epos
späterer Zeiten der Volksepopöe am nächsten, während die pgo_356.032
andern Kunstepen sich vergebens bemühten, jenen naiven Verkehr der

pgo_356.001
Bildners. Die Behandlungsweise ist nicht Ossianisch nebelhaft, sondern pgo_356.002
von jener frostigen Klarheit und scharfen Zeichnung, wie sie dem starren pgo_356.003
Winter des baltischen Nordens eigen ist.



pgo_356.004
Dritter Abschnitt.
pgo_356.005
Das Kunstepos.

pgo_356.006
Unter Kunstepos verstehn wir, im Gegensatze zur Volksepopöe, pgo_356.007
die Nachdichtungen derselben in einer späteren Zeit, in welcher das goldene pgo_356.008
Zeitalter der Kultur, der naive Glauben an die Macht der Götter pgo_356.009
und die Größe der Helden dahingeschwunden war und die Phantasie der pgo_356.010
Dichter jene fehlende Frische und Unmittelbarkeit durch ihre Erfindungen pgo_356.011
zu ersetzen suchte. Als Kunstwerk steht die Volksepopöe, besonders die pgo_356.012
Homerische, hoch über ihren Nachdichtungen. Das „Kunstepos“ ist pgo_356.013
nicht künstlerischer, sondern nur kunstvoller. Die Epopöe sammelt die pgo_356.014
Sagen des Volkes und alle Ueberlieferungen in einer organischen Einheit; pgo_356.015
das Epos ergreift einen Stoff der geschichtlichen Welt oder der pgo_356.016
Tradition, die aber nur bestimmten Lebenskreisen, nicht dem ganzen Volke pgo_356.017
angehört, und schmückt ihn mit Zügen willkürlicher, dichterischer Erfindung pgo_356.018
aus. Das Genie eines Homer, Firdusi und Ossian ist größer, pgo_356.019
als das eines Tasso, Camoëns und Milton; denn der Maaßstab pgo_356.020
der heutigen Tages überschätzten dichterischen Erfindungskraft genügt nicht pgo_356.021
für das tiefere Wesen des Genies. Die Bedeutung jener großen Volksdichter pgo_356.022
liegt aber darin, daß der Geist ihrer Nation und ihres Jahrhunderts pgo_356.023
in ihnen unmittelbar lebendig war, daß der schöpferische Jnstinkt pgo_356.024
ihrer Phantasie mit dem politischen und religiösen ihres Zeitalters zusammenfiel, pgo_356.025
während die Sänger der Kunstepen eine bereits fertige Kulturwelt pgo_356.026
mit unwesentlichen Erfindungen bereicherten. Wohl sind die Epiker pgo_356.027
der romanischen Völker Nationaldichter geworden, aber nicht Volks- pgo_356.028
dichter im Sinne Homer's. Nur der große Dante hat die Plastik des pgo_356.029
Katholicismus mit einer epischen Gewaltigkeit herausgebildet, die ihn pgo_356.030
jenen ursprünglichen Volksdichtern nähert. Ueberhaupt steht das religiöse pgo_356.031
Epos
späterer Zeiten der Volksepopöe am nächsten, während die pgo_356.032
andern Kunstepen sich vergebens bemühten, jenen naiven Verkehr der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0378" n="356"/><lb n="pgo_356.001"/>
Bildners. Die Behandlungsweise ist nicht Ossianisch nebelhaft, sondern <lb n="pgo_356.002"/>
von jener frostigen Klarheit und scharfen Zeichnung, wie sie dem starren     <lb n="pgo_356.003"/>
Winter des baltischen Nordens eigen ist. </p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pgo_356.004"/>
              <head> <hi rendition="#c">Dritter Abschnitt.</hi> </head>
              <lb n="pgo_356.005"/>
              <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Das Kunstepos</hi>.</hi> </head>
              <p><lb n="pgo_356.006"/>
Unter <hi rendition="#g">Kunstepos</hi> verstehn wir, im Gegensatze zur <hi rendition="#g">Volksepopöe,</hi> <lb n="pgo_356.007"/>
die Nachdichtungen derselben in einer späteren Zeit, in welcher das goldene <lb n="pgo_356.008"/>
Zeitalter der Kultur, der naive Glauben an die Macht der Götter <lb n="pgo_356.009"/>
und die Größe der Helden dahingeschwunden war und die Phantasie der <lb n="pgo_356.010"/>
Dichter jene fehlende Frische und Unmittelbarkeit durch ihre Erfindungen <lb n="pgo_356.011"/>
zu ersetzen suchte. Als <hi rendition="#g">Kunstwerk</hi> steht die Volksepopöe, besonders die <lb n="pgo_356.012"/>
Homerische, hoch über ihren Nachdichtungen. Das &#x201E;<hi rendition="#g">Kunst</hi>epos&#x201C; ist <lb n="pgo_356.013"/>
nicht künstlerischer, sondern nur kunstvoller. Die Epopöe sammelt die <lb n="pgo_356.014"/>
Sagen des Volkes und alle Ueberlieferungen in einer organischen Einheit; <lb n="pgo_356.015"/>
das Epos ergreift einen Stoff der geschichtlichen Welt oder der <lb n="pgo_356.016"/>
Tradition, die aber nur bestimmten Lebenskreisen, nicht dem ganzen Volke <lb n="pgo_356.017"/>
angehört, und schmückt ihn mit Zügen willkürlicher, dichterischer Erfindung <lb n="pgo_356.018"/>
aus. Das Genie eines Homer, Firdusi und Ossian ist größer, <lb n="pgo_356.019"/>
als das eines Tasso, Camoëns und Milton; denn der Maaßstab <lb n="pgo_356.020"/>
der heutigen Tages überschätzten dichterischen Erfindungskraft genügt nicht <lb n="pgo_356.021"/>
für das tiefere Wesen des Genies. Die Bedeutung jener großen Volksdichter <lb n="pgo_356.022"/>
liegt aber darin, daß der Geist ihrer Nation und ihres Jahrhunderts <lb n="pgo_356.023"/>
in ihnen unmittelbar lebendig war, daß der schöpferische Jnstinkt <lb n="pgo_356.024"/>
ihrer Phantasie mit dem politischen und religiösen ihres Zeitalters zusammenfiel, <lb n="pgo_356.025"/>
während die Sänger der Kunstepen eine bereits fertige Kulturwelt <lb n="pgo_356.026"/>
mit unwesentlichen Erfindungen bereicherten. Wohl sind die Epiker <lb n="pgo_356.027"/>
der romanischen Völker <hi rendition="#g">National</hi>dichter geworden, aber nicht <hi rendition="#g">Volks-</hi> <lb n="pgo_356.028"/>
dichter im Sinne Homer's. Nur der große <hi rendition="#g">Dante</hi> hat die Plastik des <lb n="pgo_356.029"/>
Katholicismus mit einer epischen Gewaltigkeit herausgebildet, die ihn <lb n="pgo_356.030"/>
jenen ursprünglichen Volksdichtern nähert. Ueberhaupt steht das <hi rendition="#g">religiöse <lb n="pgo_356.031"/>
Epos</hi> späterer Zeiten der Volksepopöe am nächsten, während die <lb n="pgo_356.032"/>
andern <hi rendition="#g">Kunstepen</hi> sich vergebens bemühten, jenen naiven Verkehr der
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[356/0378] pgo_356.001 Bildners. Die Behandlungsweise ist nicht Ossianisch nebelhaft, sondern pgo_356.002 von jener frostigen Klarheit und scharfen Zeichnung, wie sie dem starren pgo_356.003 Winter des baltischen Nordens eigen ist. pgo_356.004 Dritter Abschnitt. pgo_356.005 Das Kunstepos. pgo_356.006 Unter Kunstepos verstehn wir, im Gegensatze zur Volksepopöe, pgo_356.007 die Nachdichtungen derselben in einer späteren Zeit, in welcher das goldene pgo_356.008 Zeitalter der Kultur, der naive Glauben an die Macht der Götter pgo_356.009 und die Größe der Helden dahingeschwunden war und die Phantasie der pgo_356.010 Dichter jene fehlende Frische und Unmittelbarkeit durch ihre Erfindungen pgo_356.011 zu ersetzen suchte. Als Kunstwerk steht die Volksepopöe, besonders die pgo_356.012 Homerische, hoch über ihren Nachdichtungen. Das „Kunstepos“ ist pgo_356.013 nicht künstlerischer, sondern nur kunstvoller. Die Epopöe sammelt die pgo_356.014 Sagen des Volkes und alle Ueberlieferungen in einer organischen Einheit; pgo_356.015 das Epos ergreift einen Stoff der geschichtlichen Welt oder der pgo_356.016 Tradition, die aber nur bestimmten Lebenskreisen, nicht dem ganzen Volke pgo_356.017 angehört, und schmückt ihn mit Zügen willkürlicher, dichterischer Erfindung pgo_356.018 aus. Das Genie eines Homer, Firdusi und Ossian ist größer, pgo_356.019 als das eines Tasso, Camoëns und Milton; denn der Maaßstab pgo_356.020 der heutigen Tages überschätzten dichterischen Erfindungskraft genügt nicht pgo_356.021 für das tiefere Wesen des Genies. Die Bedeutung jener großen Volksdichter pgo_356.022 liegt aber darin, daß der Geist ihrer Nation und ihres Jahrhunderts pgo_356.023 in ihnen unmittelbar lebendig war, daß der schöpferische Jnstinkt pgo_356.024 ihrer Phantasie mit dem politischen und religiösen ihres Zeitalters zusammenfiel, pgo_356.025 während die Sänger der Kunstepen eine bereits fertige Kulturwelt pgo_356.026 mit unwesentlichen Erfindungen bereicherten. Wohl sind die Epiker pgo_356.027 der romanischen Völker Nationaldichter geworden, aber nicht Volks- pgo_356.028 dichter im Sinne Homer's. Nur der große Dante hat die Plastik des pgo_356.029 Katholicismus mit einer epischen Gewaltigkeit herausgebildet, die ihn pgo_356.030 jenen ursprünglichen Volksdichtern nähert. Ueberhaupt steht das religiöse pgo_356.031 Epos späterer Zeiten der Volksepopöe am nächsten, während die pgo_356.032 andern Kunstepen sich vergebens bemühten, jenen naiven Verkehr der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/378
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/378>, abgerufen am 22.11.2024.