pgo_003.001 gung der Leidenschaften durch die Tragödie, von ihrer Verwickelung pgo_003.002 und Auflösung ein für allemal die Bahn gebrochen. pgo_003.003 Daß seine Lehre zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist bekannt; pgo_003.004 die französische Dramatik erstarrte durch ihre einseitige Auffassung, und pgo_003.005 erst ein verwandter, scharf denkender und sondernder Geist, wie Lessing,pgo_003.006 legte ihren Kern, befreit von den vergänglichen Schlacken, dem prüfenden pgo_003.007 Auge dar. Daß Aristoteles die Kunst aus dem Triebe der Nachahmungpgo_003.008 (mimesis) gleich in den ersten Kapiteln seiner Poetik ableitet, hat nicht pgo_003.009 nur die ästhetischen Verirrungen eines Batteux hervorgerufen, sondern pgo_003.010 könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben. pgo_003.011 Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser "Nachahmung" ein pgo_003.012 bloßes Abschreiben der Wirklichkeit zu verstehn. Sonst würde er weder pgo_003.013 vom Dichter verlangen können, daß er im Trauerspiel bessere Menschen, pgo_003.014 als seine Zeitgenossen, nachahmen solle *)- eine Stelle, aus der sich pgo_003.015 schon die Schiefheit des deutschen Ausdruckes "nachahmen" hinlänglich pgo_003.016 ergiebt -- noch den physikalischen Poeten (phusiologoi), welche blos Natur pgo_003.017 schildern, allen dichterischen Werth absprechen.
pgo_003.018 Die Bedeutung dieser philosophischen Dioskuren Griechenlands ist pgo_003.019 nun in Jahrhunderten nicht wieder erreicht worden. Die Neuplatoniker, pgo_003.020 wie Plotin und Proklus, führten nur die platonischen Jdeeen weiter pgo_003.021 aus und verwischten zum Theil ihr Gepräge, indem sie die Jdee des pgo_003.022 Schönen in einen abstracten Begriff verwandelten; andere, wie Longin in pgo_003.023 seiner bekannten Schrift "über das Erhabene" und Quinctilian, hatten pgo_003.024 nur rhetorische Zwecke, nur die Bildung des Redners vor Augen. Die pgo_003.025 Poetik selbst verwandelte sich in eine Receptirkunst und behielt diese Gestalt pgo_003.026 lange Jahrhunderte hindurch, indem sie bald in genialen Apercu's, bald pgo_003.027 in dürrem Formalismus aufging. Der geistvollste dieser Receptenschreiber pgo_003.028 bleibt immer der weltmännische Quintus Flaccus Horatius in pgo_003.029 seiner "ars poetica," in welcher er mit jenem liebenswürdigen dichterischen pgo_003.030 Conversationstone, der ihn auszeichnet, die Pisonen über die pgo_003.031 Dichtkunst unterrichtet. Ein Weltmann ist in der Regel ein schlechter pgo_003.032 Systematiker -- und so darf man bei Horaz keinen wissenschaftlichen
*)pgo_003.033 Arist. Poet. keph. 2: etoi beltionas \e kad'emas, \e kheironas, \e pgo_003.034 kai toioutous anagke mimeisthai, und am Ende: e de (tragodia) beltious mimeisthai pgo_003.035 bouletai tonnun.
pgo_003.001 gung der Leidenschaften durch die Tragödie, von ihrer Verwickelung pgo_003.002 und Auflösung ein für allemal die Bahn gebrochen. pgo_003.003 Daß seine Lehre zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist bekannt; pgo_003.004 die französische Dramatik erstarrte durch ihre einseitige Auffassung, und pgo_003.005 erst ein verwandter, scharf denkender und sondernder Geist, wie Lessing,pgo_003.006 legte ihren Kern, befreit von den vergänglichen Schlacken, dem prüfenden pgo_003.007 Auge dar. Daß Aristoteles die Kunst aus dem Triebe der Nachahmungpgo_003.008 (μίμησις) gleich in den ersten Kapiteln seiner Poetik ableitet, hat nicht pgo_003.009 nur die ästhetischen Verirrungen eines Batteux hervorgerufen, sondern pgo_003.010 könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben. pgo_003.011 Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser „Nachahmung“ ein pgo_003.012 bloßes Abschreiben der Wirklichkeit zu verstehn. Sonst würde er weder pgo_003.013 vom Dichter verlangen können, daß er im Trauerspiel bessere Menschen, pgo_003.014 als seine Zeitgenossen, nachahmen solle *)─ eine Stelle, aus der sich pgo_003.015 schon die Schiefheit des deutschen Ausdruckes „nachahmen“ hinlänglich pgo_003.016 ergiebt — noch den physikalischen Poeten (φυσιόλογοι), welche blos Natur pgo_003.017 schildern, allen dichterischen Werth absprechen.
pgo_003.018 Die Bedeutung dieser philosophischen Dioskuren Griechenlands ist pgo_003.019 nun in Jahrhunderten nicht wieder erreicht worden. Die Neuplatoniker, pgo_003.020 wie Plotin und Proklus, führten nur die platonischen Jdeeen weiter pgo_003.021 aus und verwischten zum Theil ihr Gepräge, indem sie die Jdee des pgo_003.022 Schönen in einen abstracten Begriff verwandelten; andere, wie Longin in pgo_003.023 seiner bekannten Schrift „über das Erhabene“ und Quinctilian, hatten pgo_003.024 nur rhetorische Zwecke, nur die Bildung des Redners vor Augen. Die pgo_003.025 Poetik selbst verwandelte sich in eine Receptirkunst und behielt diese Gestalt pgo_003.026 lange Jahrhunderte hindurch, indem sie bald in genialen Aperçu's, bald pgo_003.027 in dürrem Formalismus aufging. Der geistvollste dieser Receptenschreiber pgo_003.028 bleibt immer der weltmännische Quintus Flaccus Horatius in pgo_003.029 seiner „ars poetica,“ in welcher er mit jenem liebenswürdigen dichterischen pgo_003.030 Conversationstone, der ihn auszeichnet, die Pisonen über die pgo_003.031 Dichtkunst unterrichtet. Ein Weltmann ist in der Regel ein schlechter pgo_003.032 Systematiker — und so darf man bei Horaz keinen wissenschaftlichen
*)pgo_003.033 Arist. Poet. κεφ. 2: ἤτοι βελτίονας \̓η καδ'ἡμᾶς, \̓η χείρονας, \̓η pgo_003.034 καὶ τοιούτους ἀνάγκη μιμεῖσθαι, und am Ende: ἡ δε (τραγῳδία) βελτίους μιμείσθαι pgo_003.035 βούλεται τῶννῦν.
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könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben. pgo_003.011
Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser „Nachahmung“ ein pgo_003.012
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Arist. Poet. κεφ. 2: ἤτοι βελτίονας \̓η καδ'ἡμᾶς, \̓η χείρονας, \̓η pgo_003.034
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/25>, abgerufen am 27.07.2024.
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