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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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4. Die Hyperbel.

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Die Hyperbel ist das Bild, das die Erscheinung über das Maaß pgo_168.003
der sinnlichen Wahrheit hinaus vergrößert, um dadurch den Gedanken pgo_168.004
zu erheben und zu verstärken. Die Neigung zum Hyperbolischen ist der pgo_168.005
menschlichen Natur angeboren; es liegt ebenso vielen gewöhnlichen Höflichkeitsformen pgo_168.006
zu Grunde, wie es einer lebhaften Empfindung, einer pgo_168.007
glühenden Leidenschaft, jedem von seinem Gegenstand durchdrungenen pgo_168.008
Gemüth stets zu Gebote steht. Die Hyperbel setzt allerdings eine Versündigung pgo_168.009
gegen die sinnliche Wahrheit voraus, welche eine Bedingung pgo_168.010
der künstlerischen Schönheit ist; aber mit der erregten Seele wachsen auch pgo_168.011
die Dimensionen ihrer Bilder, und der Vergrößerungsspiegel der Begeisterung pgo_168.012
und der Leidenschaft zeigt Jedem, der hineinsieht, dasselbe Bild. pgo_168.013
Diese subjective Wahrheit hat in der Poesie dasselbe Recht, wie die pgo_168.014
objektive. Je heftiger die Leidenschaft, desto grandioser werden ihre pgo_168.015
Hyperbeln.

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Wir unterscheiden zunächst die naive Hyperbel von der Hyperbel pgo_168.017
der Reflexion.
Jn der naiven Hyperbel glaubt die Phantasie pgo_168.018
selbst an das Uebermaaß der Erscheinung und stellt dies ohne jeden pgo_168.019
Zusatz als selbstverständlich hin. Diese Hyperbel finden wir in der pgo_168.020
Symbolik der orientalischen Religionen, besonders der Jndischen, welche pgo_168.021
durch diese Uebertreibungen des Bildes das Göttliche würdig darzustellen pgo_168.022
glaubten. Hierher gehören jene hyperbolischen Zahlen der indischen pgo_168.023
Mythologie. Hundert Jahre lang liegt Sivas mit Uma in ehelicher pgo_168.024
Umarmung; Sagaras hat 60000 Söhne, die in einem Kürbiß zur pgo_168.025
Welt kommen; Ansumao unterzieht sich 32000 Jahre lang den strengsten pgo_168.026
Büßungen auf dem Gipfel des Himavan. Jn ähnlicher naiver Weise pgo_168.027
rühmen die großen nationalen Volksepen ihre Helden:

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Was hat er nicht vollbracht! Bis an die Wogen pgo_168.029
Des Meers von Tschin wirft einen Pfeil sein Bogen. pgo_168.030
Das Krokodil im tiefsten Wasserschlunde, pgo_168.031
Der Panther stirbt vom Hauch aus seinem Munde.
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Firdusi.

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Jhn ergötzte die blutige Schlacht, pgo_168.034
Sein Arm war ein Donner des Himmels.
pgo_168.035

Ossian.

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Büßungen auf dem Gipfel des Himavàn. Jn ähnlicher naiver Weise pgo_168.027
rühmen die großen nationalen Volksepen ihre Helden:

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Was hat er nicht vollbracht! Bis an die Wogen pgo_168.029
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Der Panther stirbt vom Hauch aus seinem Munde.
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Firdusi.

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Jhn ergötzte die blutige Schlacht, pgo_168.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/190>, abgerufen am 27.04.2024.