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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Dennoch wird durch die Ueberladung mit selbst glücklichen Allegorieen, pgo_166.002
wie sie in Goethe's späteren Werken herrscht, die Phantasie ermüdet! pgo_166.003
Sie vergißt nicht, daß sie die Gestalt niemals selbstständig festhalten darf, pgo_166.004
sondern immer nach dem Schatten des darüber schwebenden Begriffes greifen pgo_166.005
muß. Denn halt' ich die Gestalt fest, mach' ich aus der Furcht einen pgo_166.006
Furchtsamen, so erscheint die Darstellung augenblicklich als Karrikatur! pgo_166.007
Verfehlt aber ist's, mit Goethe im zweiten Theile des Faust, die Gestalt pgo_166.008
bald als wirklichen, individuellen Menschen, bald mit einer allegorischen pgo_166.009
Bezeichnung figuriren zu lassen; sodaß uns der Held selbst auf einmal pgo_166.010
die romantische Kunst bedeuten soll! Das gehört in die Hexenküche pgo_166.011
des altgewordenen Goethe, der wohl verstand, seinen Auslegern ein allegorisches pgo_166.012
Hexeneinmaleins vorzudeklamiren! Dante war mit seinen pgo_166.013
scholastischen Allegorieen freilich mit schlimmem Beispiele vorangegangen, pgo_166.014
indem er das herrliche Weib seiner vita nuova in die "Theologie" verhimmelte! pgo_166.015
Nicht viel glücklicher war Milton mit seinen Allegorieen pgo_166.016
z. B. von Tod und Sünde, und Voltaire setzte gar den seinigen in der pgo_166.017
Henriade ein hölzernes Flugwerk an. Auch in Jordan's "Demiurgos" pgo_166.018
herrscht zum Theil eine nach den großen Mustern geordnete, allegorische pgo_166.019
Verwirrung, und nur die utopische Jdylle des "Nirgendheim" macht pgo_166.020
einen erheiternden Eindruck.

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Die dritte, die mythologische Personifikation, verwandelt die pgo_166.022
sinnliche Erscheinung und die Jdee in eine göttliche Persönlichkeit von pgo_166.023
individueller Lebenskraft, in welcher das Bild nicht, wie in der Allegorie, pgo_166.024
auf die Bedeutung hinweist, sondern dieselbe unmittelbar enthält. Nachdem pgo_166.025
die Religionen aus dem Kreise der gährenden Natursymbolik herausgetreten, pgo_166.026
in welcher Bild und Bedeutung sich nicht deckten, traten pgo_166.027
sie in das Stadium der Personen bildenden Mythe, welches vor allen pgo_166.028
durch die griechische Kunstreligion repräsentirt wird. Die Phantasie der pgo_166.029
Künstler wurde religiösschöpferisch; Homer und Hesiod schufen den pgo_166.030
Griechen ihre Götter. Jene lebendige Beseelung der Welt durch diese pgo_166.031
höchste Art der Personifikation hat Schiller in den "Göttern Griechenlands" pgo_166.032
zugleich geschildert und angewandt:

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Diese Höhen füllten Oreaden, pgo_166.034
Eine Dryas lebt' in jenem Baum, pgo_166.035
Aus den Urnen lieblicher Najaden pgo_166.036
Sprang der Ströme Silberschaum.

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Dennoch wird durch die Ueberladung mit selbst glücklichen Allegorieen, pgo_166.002
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sinnliche Erscheinung und die Jdee in eine göttliche Persönlichkeit von pgo_166.023
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/188>, abgerufen am 22.11.2024.