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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Erzittre, Welt, ich bin die Pest, pgo_164.002
Jch komm' in alle Lande pgo_164.003
Und richte mir ein großes Fest, pgo_164.004
Mein Blick ist Fieber, feuerfest pgo_164.005
Und schwarz ist mein Gewande.
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Jch komme von Aegyptenland pgo_164.007
Jn rothen Nebelschleiern, pgo_164.008
Am Nilusstrand im gelben Sand pgo_164.009
Entsog ich Gift dem Wüstenbrand pgo_164.010
Und Gift aus Dracheneiern.

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Diese Art der Personifikation verleiht dem Bilde und dem Ausdrucke pgo_164.012
die höchste Lebendigkeit und ist echt dichterisch. Von den beiden folgenden pgo_164.013
Arten läßt sich dies nur mit Einschränkung behaupten.

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Die allegorische Personifikation, die eigentliche Allegorie, pgo_164.015
verwandelt abstrakte Begriffe in Personen und gehört wesentlich pgo_164.016
der Skulptur und Malerei an. Der Begriff z. B. die Tugend, die pgo_164.017
Hoffnung, der Glauben, die Sünde wird zur Gestalt, und zwar zur pgo_164.018
menschlichen Gestalt. Diese Gestalt aber ist an und für sich unfähig, pgo_164.019
jenen Begriff auszudrücken; die Bedeutung flüchtet daher in das Attribut, pgo_164.020
in irgend eine beigegebene Aeußerlichkeit, durch deren Andeutung pgo_164.021
die Phantasie erst auf den rechten Weg geführt wird, was sie sich bei dem pgo_164.022
Ganzen zu denken hat. Die Gerechtigkeit erhält eine Wage und Binde, pgo_164.023
der Tod ein Stundenglas und eine Sense. Diese Hilfsmittel der bildenden pgo_164.024
Kunst hat aber die Poesie nicht nöthig, da sie auf andern Wegen pgo_164.025
Gestalt und Bedeutung gleich setzen kann. Die Allegorie, die zu solchen pgo_164.026
äußerlichen Attributen greift, wird daher in der Poesie immer nüchtern pgo_164.027
und ärmlich erscheinen, während sie bei den bildenden und zeichnenden pgo_164.028
Künsten der Deutlichkeit wegen unerläßlich ist. Die Allegorie des Horaz pgo_164.029
in seiner Ode an die "Fortuna zu Antium" ist von dieser leblosen Art:

pgo_164.030
Dir bahnt den Weg die harte Nothwendigkeit, pgo_164.031
Geschärfte Keil' und Nägel in eh'rner Hand, pgo_164.032
Auch fehlt ihr nicht der Todeshaken, pgo_164.033
Noch des geschmolzenen Bleies Marter.

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Der Maler darf die Hoffnung mit einem Schiffsanker darstellen oder pgo_164.035
mit einer Lilie in der Hand, der Dichter niemals! Die Allegorie muß pgo_164.036
klar sein, in einem durchsichtigen Palaste wohnen, wie ein sinnreicher Poet

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Erzittre, Welt, ich bin die Pest, pgo_164.002
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Mein Blick ist Fieber, feuerfest pgo_164.005
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Dir bahnt den Weg die harte Nothwendigkeit, pgo_164.031
Geschärfte Keil' und Nägel in eh'rner Hand, pgo_164.032
Auch fehlt ihr nicht der Todeshaken, pgo_164.033
Noch des geschmolzenen Bleies Marter.

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Der Maler darf die Hoffnung mit einem Schiffsanker darstellen oder pgo_164.035
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/186>, abgerufen am 27.04.2024.