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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Puristen, welche nicht das Product eines sprachschöpferischen Genius pgo_132.002
ist, sondern die mühsame Erfindung einer sprachkünstelnden Grille, pgo_132.003
wenn es sich an die Stelle eingebürgerter Wörter fremden Ursprungs pgo_132.004
drängen will. Trotz des Fremdwörterbuchs von Heyse und des Potsdamer pgo_132.005
Sprachreinigungsvereins verfällt indeß die neuere Poesie selten in pgo_132.006
diesen Fehler, den in früheren Zeiten bereits Rachel in seinen Satyren pgo_132.007
verspottet. Die Thätigkeit des Puristen ist in diesem Falle nur eine pgo_132.008
Karrikatur der Thätigkeit des Dichters, welcher neue Worte entweder pgo_132.009
durch eigene Bildnerkraft, durch einen Act der Jnspiration schafft oder pgo_132.010
ältere oder veraltete in neuen Schößlingen zu Ehren bringt. Hierüber pgo_132.011
hat schon Horaz in seiner "Poetik" die richtigsten Lehren ertheilt*). Er pgo_132.012
hat, indem er sich auf den Vorgang des Plautus, Cato und Ennius pgo_132.013
beruft, auch für Virgil und für sich das Recht in Anspruch genommen, pgo_132.014
neue Wörter in die Sprache einzuführen, unter dem Vorbehalt, dies pgo_132.015
Recht mit Maaß in Anwendung zu bringen; er hat auf der anderen Seite pgo_132.016
die organische Entwickelung der Sprache selbst, die er mit dem Laubwalde pgo_132.017
vergleicht, der zuerst die ältesten Blätter verliert, im Lenz aber sich jugendlich pgo_132.018
mit frischem Schmuck erneuert, in ihrem Wesen richtig erkannt und pgo_132.019
als den Wächter dieser ganzen sprachlichen Fortbildung, mag sie nun vom pgo_132.020
dichterischen Talent oder vom nationalen Genius selbst ausgehen, den pgo_132.021
Sprachgebrauch hingestellt:

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si volet usus, pgo_132.023
Quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi.

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Daß alte Wurzeln neue Stämme, alte Stämme neue Zweige, Blätter pgo_132.025
und Blüthen treiben, ist das gute Recht der sprachlichen Entwickelung. pgo_132.026
Der Dichter kann manches ältere Wort durch glückliche Anwendung wieder pgo_132.027
zu Ehren bringen, wie es in vielen Fällen das Vorbild Goethe's pgo_132.028
beweist. Dagegen ist die romantische Schule, besonders Fouque, in pgo_132.029
eine widerliche Manier verfallen, indem sie, minniglich und reckenhaft, pgo_132.030
altdeutsche Wörter unverändert aufnahm, um damit ihre Dichtungen in pgo_132.031
einer mittelalterlichen Weise auszustaffiren, welche dem Genius unserer pgo_132.032
Zeit widerspricht. Auch Redwitz in seiner "Amaranth" und selbst pgo_132.033
Fontane und Andere in altdeutschen Balladen befleißigen sich oft einer

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Hor. de art. poet. 46-72.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/154>, abgerufen am 28.04.2024.