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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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als der Realismus, sondern sich auch mehr in der Sonnennähe der Kunst pgo_102.002
befindet! Das Princip des Realismus ist für die künstlerische Ausführung pgo_102.003
das Dürftigste von der Welt! So z. V. im Drama, wo es den pgo_102.004
Ausdruck des Affectes und der Leidenschaft gilt! Der Realist hilft sich pgo_102.005
hier mit irgend einem naturgemäßen Seufzer, einem "ach! o! ihr Götter!" pgo_102.006
einer stummen Ohnmacht, wofür sich in den Werken unserer Sturm- und pgo_102.007
Drangautoren, z. B. in den Dramen von Klinger, die zahlreichsten pgo_102.008
Proben finden. Dies ist allerdings Nachahmung der Natur; aber schon pgo_102.009
Hegel verlangt, daß der Dramatiker sein Pathos expliciren solle, und die pgo_102.010
Beschränkung auf die Naturlaute der Empfindung ist ein Zeichen geistiger pgo_102.011
Armuth, welche sich nicht in die Tiefen der Seele zu versenken und hinter pgo_102.012
ihren Schleiern und Verhüllungen ihr eigenstes Wesen zu ergründen und pgo_102.013
auszusprechen vermag. Gerade wo die Natur verstummt, soll der Poet pgo_102.014
ihr eine Sprache leihen!

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Freilich giebt es auch einen windigen, spinnenbeinigen Jdealismus, pgo_102.016
der nur ein dichterisches "Schattenspiel an der Wand" zu Tage bringt! pgo_102.017
Die große Maculatur der Liebeslyrik, die im Duft der Empfindungen pgo_102.018
zerflattert, ohne ihnen schöne Gestalt zu geben, gehört hierher. Ein großer pgo_102.019
Theil der Klopstock'schen Lyrik und Epik mag auch diesem falschen pgo_102.020
Jdealismus zugerechnet werden; denn die Empfindungen Klopstock's pgo_102.021
bewegen sich zerfließend in einem so verdünnten Aether und in den Ausdrücken pgo_102.022
einer so abstracten Ueberschwenglichkeit, daß sie dadurch ungenießbar pgo_102.023
werden. Die Empfindung muß aus ihrer reinen Jnnerlichkeit heraustreten, pgo_102.024
wenn sie uns ergreifen will -- die dichterische Empfindung pgo_102.025
bedarf des Bildes als ihrer Handhabe und wird uns nur durch das pgo_102.026
Bild ergreifen. Sonst bleibt sie ein musikalisches Weben -- und es ist pgo_102.027
charakteristisch genug, daß Klopstock die kühnsten sprachlichen Fugen pgo_102.028
anwenden muß, um die unbestimmte Musik seiner Seele auszudrücken! pgo_102.029
Daher seine in undeutschen Pyrrhichien schwindsüchtig galloppirenden pgo_102.030
Rhythmen oder die Sisyphusarbeit, mit der er ebenso undeutsche Molossen pgo_102.031
aufeinanderwälzt! Daher der Oratorienstyl seiner "Messiade," welche pgo_102.032
sich zuletzt in gehalt- und gestaltlose Engelssymphonieen verflüchtigt! Ein pgo_102.033
ebenso verkehrter Jdealismus blüht an den Pforten der Romantik als pgo_102.034
die "blaue Blume" des Novalis, gährt gestaltlos in Hölderlin's "Hyperion," pgo_102.035
schafft immer wieder Dichter und Künstler, um sich aus der realen

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als der Realismus, sondern sich auch mehr in der Sonnennähe der Kunst pgo_102.002
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Hegel verlangt, daß der Dramatiker sein Pathos expliciren solle, und die pgo_102.010
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ihr eine Sprache leihen!

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Freilich giebt es auch einen windigen, spinnenbeinigen Jdealismus, pgo_102.016
der nur ein dichterisches „Schattenspiel an der Wand“ zu Tage bringt! pgo_102.017
Die große Maculatur der Liebeslyrik, die im Duft der Empfindungen pgo_102.018
zerflattert, ohne ihnen schöne Gestalt zu geben, gehört hierher. Ein großer pgo_102.019
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werden. Die Empfindung muß aus ihrer reinen Jnnerlichkeit heraustreten, pgo_102.024
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charakteristisch genug, daß Klopstock die kühnsten sprachlichen Fugen pgo_102.028
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/124>, abgerufen am 25.11.2024.