Gotter, Friedrich Wilhelm: Die Erbschleicher. Leipzig, 1789.Die Erbschleicher. Justine. Eine Kronik. Gerhard. Kroniken mag ich leiden. Sie kann laut lesen. Justine. Vom Anfang? Gerhard. Lieber gegen das Ende, daß wir bald durchkommen. Justine (thut, als ob sie läse.) "Den 16ten wurde in der St. Jürgen Kirche ein seltsames Brautpaar kopulirt. Der Bräutigam war acht- zehn Jahr alt, und seine schöne Braut -- acht- zig." Gerhard. Der Narr! so ein altes Mütter- chen! Justine. "Den 24sten trug sich in einer be- nachbarten großen Stadt folgende tragische Ge- schichte zu - - -" Gerhard. Nun? (Nimmt den Becher und will trinken, setzt aber vor steigender Aufmerksamkeit jedes- mal wieder ab.) Justine. "Eine junge Frau, deren Ehgemahl vierzig Jahr älter war, als sie, hatte einen Lieb- haber, und weil ihnen der eifersüchtige alte Mann die Zeit zu lang machte, so verabredeten sie sich, denselben aus dem Wege zu räumen. Nachdem sie ihm nun einigemal Gift beygebracht hatten, Die Erbſchleicher. Juſtine. Eine Kronik. Gerhard. Kroniken mag ich leiden. Sie kann laut leſen. Juſtine. Vom Anfang? Gerhard. Lieber gegen das Ende, daß wir bald durchkommen. Juſtine (thut, als ob ſie läſe.) „Den 16ten wurde in der St. Juͤrgen Kirche ein ſeltſames Brautpaar kopulirt. Der Braͤutigam war acht- zehn Jahr alt, und ſeine ſchoͤne Braut — acht- zig.“ Gerhard. Der Narr! ſo ein altes Muͤtter- chen! Juſtine. „Den 24ſten trug ſich in einer be- nachbarten großen Stadt folgende tragiſche Ge- ſchichte zu - - -“ Gerhard. Nun? (Nimmt den Becher und will trinken, ſetzt aber vor ſteigender Aufmerkſamkeit jedes- mal wieder ab.) Juſtine. „Eine junge Frau, deren Ehgemahl vierzig Jahr aͤlter war, als ſie, hatte einen Lieb- haber, und weil ihnen der eiferſuͤchtige alte Mann die Zeit zu lang machte, ſo verabredeten ſie ſich, denſelben aus dem Wege zu raͤumen. Nachdem ſie ihm nun einigemal Gift beygebracht hatten, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0097" n="91"/> <fw place="top" type="header">Die Erbſchleicher.</fw><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine.</hi> </speaker> <p>Eine Kronik.</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard.</hi> </speaker> <p>Kroniken mag ich leiden. Sie<lb/> kann laut leſen.</p> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine.</hi> </speaker> <p>Vom Anfang?</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard.</hi> </speaker> <p>Lieber gegen das Ende, daß wir<lb/> bald durchkommen.</p> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine</hi> </speaker> <stage>(thut, als ob ſie läſe.)</stage> <p>„Den 16ten<lb/> wurde in der St. Juͤrgen Kirche ein ſeltſames<lb/> Brautpaar kopulirt. Der Braͤutigam war acht-<lb/> zehn Jahr alt, und ſeine ſchoͤne Braut — acht-<lb/> zig.“</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard.</hi> </speaker> <p>Der Narr! ſo ein altes Muͤtter-<lb/> chen!</p> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine.</hi> </speaker> <p>„Den 24ſten trug ſich in einer be-<lb/> nachbarten großen Stadt folgende tragiſche Ge-<lb/> ſchichte zu - - -“</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard.</hi> </speaker> <p>Nun?</p> <stage>(Nimmt den Becher und will<lb/> trinken, ſetzt aber vor ſteigender Aufmerkſamkeit jedes-<lb/> mal wieder ab.)</stage> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine.</hi> </speaker> <p>„Eine junge Frau, deren Ehgemahl<lb/> vierzig Jahr aͤlter war, als ſie, hatte einen Lieb-<lb/> haber, und weil ihnen der eiferſuͤchtige alte Mann<lb/> die Zeit zu lang machte, ſo verabredeten ſie ſich,<lb/> denſelben aus dem Wege zu raͤumen. Nachdem<lb/> ſie ihm nun einigemal Gift beygebracht hatten,<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [91/0097]
Die Erbſchleicher.
Juſtine. Eine Kronik.
Gerhard. Kroniken mag ich leiden. Sie
kann laut leſen.
Juſtine. Vom Anfang?
Gerhard. Lieber gegen das Ende, daß wir
bald durchkommen.
Juſtine (thut, als ob ſie läſe.) „Den 16ten
wurde in der St. Juͤrgen Kirche ein ſeltſames
Brautpaar kopulirt. Der Braͤutigam war acht-
zehn Jahr alt, und ſeine ſchoͤne Braut — acht-
zig.“
Gerhard. Der Narr! ſo ein altes Muͤtter-
chen!
Juſtine. „Den 24ſten trug ſich in einer be-
nachbarten großen Stadt folgende tragiſche Ge-
ſchichte zu - - -“
Gerhard. Nun? (Nimmt den Becher und will
trinken, ſetzt aber vor ſteigender Aufmerkſamkeit jedes-
mal wieder ab.)
Juſtine. „Eine junge Frau, deren Ehgemahl
vierzig Jahr aͤlter war, als ſie, hatte einen Lieb-
haber, und weil ihnen der eiferſuͤchtige alte Mann
die Zeit zu lang machte, ſo verabredeten ſie ſich,
denſelben aus dem Wege zu raͤumen. Nachdem
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