Goldammer, Leo: Auf Wiedersehen! In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 157–185. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ihre Schauer auch über Deutschland ausgegossen. Die Volksversammlungen standen in Blüte. Man wollte Großes und trug leuchtende Worte auf flatternden Fahnen, aber das Geschlecht war klein und unterlag seiner Aufgabe. Der Rausch verflog, und die Selbstsucht setzte sich zu Tisch; Nichts blieb zurück, als das heuchlerische Wort; eine reine Sache fand nie schmutzigere Hände. Das Vaterland hatte einen neuen Tag begrüßt, aber das Morgenroth war längst verblaßt -- und nur ein Feuerschein geblieben. Es war eine stürmische Zeit, und nirgends gingen die Wogen höher als in B. Jede Straße hatte ihren Club, und auch draußen vorm Thore, wo ein Vergnügungslocal von Alters her den Namen "die neue Welt" führt, war man eifrig beschäftigt, eine neue Welt zusammenzuzimmern. Das Local hat eine eigenthümliche, fast romantische Lage. Auf einem Hügel gelegen, erhebt es sich mit seinen Säulen und Thürmchen über die Wipfel eines nachbarlichen Obstgartens und blickt, fast wie ein mittelalterliches Schloß, über die grünen Kronen hinweg. Am Fuß des Hügels und zwar nach Norden hin fließt ein tiefes, reißendes Gewässer, während sich an der Südseite die große Landstraße entlang zieht, die eben hier von einer Eisenbahnlinie durchschnitten wird. Bergan führt eine Kastanienallee, deren Ausgangspunkt das Gasthaus bildet. Hat man es erreicht, so tritt man zunächst in eine luftige Vorhalle, danach in das Schank- ihre Schauer auch über Deutschland ausgegossen. Die Volksversammlungen standen in Blüte. Man wollte Großes und trug leuchtende Worte auf flatternden Fahnen, aber das Geschlecht war klein und unterlag seiner Aufgabe. Der Rausch verflog, und die Selbstsucht setzte sich zu Tisch; Nichts blieb zurück, als das heuchlerische Wort; eine reine Sache fand nie schmutzigere Hände. Das Vaterland hatte einen neuen Tag begrüßt, aber das Morgenroth war längst verblaßt — und nur ein Feuerschein geblieben. Es war eine stürmische Zeit, und nirgends gingen die Wogen höher als in B. Jede Straße hatte ihren Club, und auch draußen vorm Thore, wo ein Vergnügungslocal von Alters her den Namen „die neue Welt“ führt, war man eifrig beschäftigt, eine neue Welt zusammenzuzimmern. Das Local hat eine eigenthümliche, fast romantische Lage. Auf einem Hügel gelegen, erhebt es sich mit seinen Säulen und Thürmchen über die Wipfel eines nachbarlichen Obstgartens und blickt, fast wie ein mittelalterliches Schloß, über die grünen Kronen hinweg. Am Fuß des Hügels und zwar nach Norden hin fließt ein tiefes, reißendes Gewässer, während sich an der Südseite die große Landstraße entlang zieht, die eben hier von einer Eisenbahnlinie durchschnitten wird. Bergan führt eine Kastanienallee, deren Ausgangspunkt das Gasthaus bildet. Hat man es erreicht, so tritt man zunächst in eine luftige Vorhalle, danach in das Schank- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0020"/> ihre Schauer auch über Deutschland ausgegossen. Die Volksversammlungen standen in Blüte. Man wollte Großes und trug leuchtende Worte auf flatternden Fahnen, aber das Geschlecht war klein und unterlag seiner Aufgabe. Der Rausch verflog, und die Selbstsucht setzte sich zu Tisch; Nichts blieb zurück, als das heuchlerische Wort; eine reine Sache fand nie schmutzigere Hände. Das Vaterland hatte einen neuen Tag begrüßt, aber das Morgenroth war längst verblaßt — und nur ein Feuerschein geblieben.</p><lb/> <p>Es war eine stürmische Zeit, und nirgends gingen die Wogen höher als in B. Jede Straße hatte ihren Club, und auch draußen vorm Thore, wo ein Vergnügungslocal von Alters her den Namen „die neue Welt“ führt, war man eifrig beschäftigt, eine <hi rendition="#g">neue Welt</hi> zusammenzuzimmern. Das Local hat eine eigenthümliche, fast romantische Lage. Auf einem Hügel gelegen, erhebt es sich mit seinen Säulen und Thürmchen über die Wipfel eines nachbarlichen Obstgartens und blickt, fast wie ein mittelalterliches Schloß, über die grünen Kronen hinweg. Am Fuß des Hügels und zwar nach Norden hin fließt ein tiefes, reißendes Gewässer, während sich an der Südseite die große Landstraße entlang zieht, die eben hier von einer Eisenbahnlinie durchschnitten wird. Bergan führt eine Kastanienallee, deren Ausgangspunkt das Gasthaus bildet. Hat man es erreicht, so tritt man zunächst in eine luftige Vorhalle, danach in das Schank-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
ihre Schauer auch über Deutschland ausgegossen. Die Volksversammlungen standen in Blüte. Man wollte Großes und trug leuchtende Worte auf flatternden Fahnen, aber das Geschlecht war klein und unterlag seiner Aufgabe. Der Rausch verflog, und die Selbstsucht setzte sich zu Tisch; Nichts blieb zurück, als das heuchlerische Wort; eine reine Sache fand nie schmutzigere Hände. Das Vaterland hatte einen neuen Tag begrüßt, aber das Morgenroth war längst verblaßt — und nur ein Feuerschein geblieben.
Es war eine stürmische Zeit, und nirgends gingen die Wogen höher als in B. Jede Straße hatte ihren Club, und auch draußen vorm Thore, wo ein Vergnügungslocal von Alters her den Namen „die neue Welt“ führt, war man eifrig beschäftigt, eine neue Welt zusammenzuzimmern. Das Local hat eine eigenthümliche, fast romantische Lage. Auf einem Hügel gelegen, erhebt es sich mit seinen Säulen und Thürmchen über die Wipfel eines nachbarlichen Obstgartens und blickt, fast wie ein mittelalterliches Schloß, über die grünen Kronen hinweg. Am Fuß des Hügels und zwar nach Norden hin fließt ein tiefes, reißendes Gewässer, während sich an der Südseite die große Landstraße entlang zieht, die eben hier von einer Eisenbahnlinie durchschnitten wird. Bergan führt eine Kastanienallee, deren Ausgangspunkt das Gasthaus bildet. Hat man es erreicht, so tritt man zunächst in eine luftige Vorhalle, danach in das Schank-
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Zitationshilfe: | Goldammer, Leo: Auf Wiedersehen! In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 157–185. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goldammer_wiedersehen_1910/20>, abgerufen am 16.07.2024. |