Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.rannt ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel. Vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln zu sehn, über Aelker und Wie- sen und Hekken und alles, und das weite Thal hinauf und hinab eine stürmende See im Sau- sen des Windes. Und wenn denn der Mond wie- der hervortrat und über der schwarzen Wolke ruh- te, und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich herrlichen Wiederschein rollte und klang, da über- fiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach! Mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund, und athmete hinab! hinab, und ver- lohr mich in der Wonne, all meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brau- sen wie die Wellen. Oh! Und den Fuß vom Boden zu heben! Vermochtest du nicht und alle Qualen zu enden! -- Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen -- ich fühl's! O Wilhelm, wie gern hätt ich all mein Menschseyn drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreissen, die Fluthen zu fassen. Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zu Theil! -- Und
rannt ich hinaus. Ein fuͤrchterliches Schauſpiel. Vom Fels herunter die wuͤhlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln zu ſehn, uͤber Aelker und Wie- ſen und Hekken und alles, und das weite Thal hinauf und hinab eine ſtuͤrmende See im Sau- ſen des Windes. Und wenn denn der Mond wie- der hervortrat und uͤber der ſchwarzen Wolke ruh- te, und vor mir hinaus die Fluth in fuͤrchterlich herrlichen Wiederſchein rollte und klang, da uͤber- fiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach! Mit offenen Armen ſtand ich gegen den Abgrund, und athmete hinab! hinab, und ver- lohr mich in der Wonne, all meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu ſtuͤrmen, dahin zu brau- ſen wie die Wellen. Oh! Und den Fuß vom Boden zu heben! Vermochteſt du nicht und alle Qualen zu enden! — Meine Uhr iſt noch nicht ausgelaufen — ich fuͤhl’s! O Wilhelm, wie gern haͤtt ich all mein Menſchſeyn drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreiſſen, die Fluthen zu faſſen. Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal dieſe Wonne zu Theil! — Und
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rannt ich hinaus. Ein fuͤrchterliches Schauſpiel.
Vom Fels herunter die wuͤhlenden Fluthen in dem
Mondlichte wirbeln zu ſehn, uͤber Aelker und Wie-
ſen und Hekken und alles, und das weite Thal
hinauf und hinab eine ſtuͤrmende See im Sau-
ſen des Windes. Und wenn denn der Mond wie-
der hervortrat und uͤber der ſchwarzen Wolke ruh-
te, und vor mir hinaus die Fluth in fuͤrchterlich
herrlichen Wiederſchein rollte und klang, da uͤber-
fiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen!
Ach! Mit offenen Armen ſtand ich gegen den
Abgrund, und athmete hinab! hinab, und ver-
lohr mich in der Wonne, all meine Quaalen all
mein Leiden da hinab zu ſtuͤrmen, dahin zu brau-
ſen wie die Wellen. Oh! Und den Fuß vom
Boden zu heben! Vermochteſt du nicht und alle
Qualen zu enden! — Meine Uhr iſt noch nicht
ausgelaufen — ich fuͤhl’s! O Wilhelm, wie gern
haͤtt ich all mein Menſchſeyn drum gegeben, mit
jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreiſſen, die
Fluthen zu faſſen. Ha! Und wird nicht vielleicht
dem Eingekerkerten einmal dieſe Wonne zu Theil! —
Und
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/61>, abgerufen am 03.07.2024. |