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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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ich nicht kenne! Vater, der sonst meine ganze See-
le füllte, und nun sein Angesicht von mir gewen-
det hat! Rufe mich zu dir! Schweige nicht län-
ger! Dein Schweigen wird diese durstende See-
le nicht aufhalten -- Und würde ein Mensch, ein
Vater zürnen können, dem sein unvermuthet rük-
kehrender Sohn um den Hals fiele und rief: Jch
bin wieder da mein Vater. Zürne nicht, daß ich
die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem
Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist
überall einerley, auf Müh und Arbeit, Lohn und
Freude; aber was soll mir das? mir ist nur
wohl wo du bist, und vor deinem Angesichte will
ich leiden und geniessen -- Und du, lieber himm-
lischer Vater, solltest ihn von dir weisen?




Wilhelm! der Mensch, von dem ich dir schrieb,
der glükliche Unglükliche, war Schreiber
bey Lottens Vater, und eine unglükliche Leiden-
schaft zu ihr, die er nährte, verbarg, entdekte, und
aus dem Dienst, geschikt wurde, hat ihn rasend ge-

macht.
L 5



ich nicht kenne! Vater, der ſonſt meine ganze See-
le fuͤllte, und nun ſein Angeſicht von mir gewen-
det hat! Rufe mich zu dir! Schweige nicht laͤn-
ger! Dein Schweigen wird dieſe durſtende See-
le nicht aufhalten — Und wuͤrde ein Menſch, ein
Vater zuͤrnen koͤnnen, dem ſein unvermuthet ruͤk-
kehrender Sohn um den Hals fiele und rief: Jch
bin wieder da mein Vater. Zuͤrne nicht, daß ich
die Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem
Willen laͤnger aushalten ſollte. Die Welt iſt
uͤberall einerley, auf Muͤh und Arbeit, Lohn und
Freude; aber was ſoll mir das? mir iſt nur
wohl wo du biſt, und vor deinem Angeſichte will
ich leiden und genieſſen — Und du, lieber himm-
liſcher Vater, ſollteſt ihn von dir weiſen?




Wilhelm! der Menſch, von dem ich dir ſchrieb,
der gluͤkliche Ungluͤkliche, war Schreiber
bey Lottens Vater, und eine ungluͤkliche Leiden-
ſchaft zu ihr, die er naͤhrte, verbarg, entdekte, und
aus dem Dienſt, geſchikt wurde, hat ihn raſend ge-

macht.
L 5
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[169/0057] ich nicht kenne! Vater, der ſonſt meine ganze See- le fuͤllte, und nun ſein Angeſicht von mir gewen- det hat! Rufe mich zu dir! Schweige nicht laͤn- ger! Dein Schweigen wird dieſe durſtende See- le nicht aufhalten — Und wuͤrde ein Menſch, ein Vater zuͤrnen koͤnnen, dem ſein unvermuthet ruͤk- kehrender Sohn um den Hals fiele und rief: Jch bin wieder da mein Vater. Zuͤrne nicht, daß ich die Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem Willen laͤnger aushalten ſollte. Die Welt iſt uͤberall einerley, auf Muͤh und Arbeit, Lohn und Freude; aber was ſoll mir das? mir iſt nur wohl wo du biſt, und vor deinem Angeſichte will ich leiden und genieſſen — Und du, lieber himm- liſcher Vater, ſollteſt ihn von dir weiſen? am 1. Dez. Wilhelm! der Menſch, von dem ich dir ſchrieb, der gluͤkliche Ungluͤkliche, war Schreiber bey Lottens Vater, und eine ungluͤkliche Leiden- ſchaft zu ihr, die er naͤhrte, verbarg, entdekte, und aus dem Dienſt, geſchikt wurde, hat ihn raſend ge- macht. L 5

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/57>, abgerufen am 24.11.2024.