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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich ei-
ne gar interessante Physiognomie, darinn eine
stille Trauer den Hauptzug machte, die aber sonst
nichts als einen graden guten Sinn ausdrükte,
seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey
Rollen gestekt, und die übrigen in einen starken
Zopf geflochten, der ihm den Rükken herunter hieng.
Da mir seine Kleidung einen Menschen von ge-
ringem Stande zu bezeichnen schien, glaubt' ich,
er würde es nicht übel nehmen, wenn ich auf sei-
ne Beschäftigung aufmerksam wäre, und daher frag-
te ich ihn, was er suchte? Jch fuche, antwortete
er mit einem tiefen Seufzer, Blumen -- und fin-
de keine -- Das ist auch die Jahrszeit nicht,
sagt' ich lächelnd. -- Es giebt so viel Blumen,
sagt er, indem er zu mir herunter kam. Jn mei-
nem Garten sind Rosen und Je länger ie lieber
zweyerley Sorten, eine hat mir mein Vater ge-
geben, sie wachsen wie's Unkraut, ich suche schon
zwey Tage darnach, und kann sie nicht finden.
Da haußen sind auch immer Blumen, gelbe und
blaue und rothe, und das Tausend Güldenkraut
hat ein schön Blümgen. Keines kann ich finden.

Jch



Geraͤuſch, das ich machte, herumdrehte, ſah ich ei-
ne gar intereſſante Phyſiognomie, darinn eine
ſtille Trauer den Hauptzug machte, die aber ſonſt
nichts als einen graden guten Sinn ausdruͤkte,
ſeine ſchwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey
Rollen geſtekt, und die uͤbrigen in einen ſtarken
Zopf geflochten, der ihm den Ruͤkken herunter hieng.
Da mir ſeine Kleidung einen Menſchen von ge-
ringem Stande zu bezeichnen ſchien, glaubt’ ich,
er wuͤrde es nicht uͤbel nehmen, wenn ich auf ſei-
ne Beſchaͤftigung aufmerkſam waͤre, und daher frag-
te ich ihn, was er ſuchte? Jch fuche, antwortete
er mit einem tiefen Seufzer, Blumen — und fin-
de keine — Das iſt auch die Jahrszeit nicht,
ſagt’ ich laͤchelnd. — Es giebt ſo viel Blumen,
ſagt er, indem er zu mir herunter kam. Jn mei-
nem Garten ſind Roſen und Je laͤnger ie lieber
zweyerley Sorten, eine hat mir mein Vater ge-
geben, ſie wachſen wie’s Unkraut, ich ſuche ſchon
zwey Tage darnach, und kann ſie nicht finden.
Da haußen ſind auch immer Blumen, gelbe und
blaue und rothe, und das Tauſend Guͤldenkraut
hat ein ſchoͤn Bluͤmgen. Keines kann ich finden.

Jch
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[164/0052] Geraͤuſch, das ich machte, herumdrehte, ſah ich ei- ne gar intereſſante Phyſiognomie, darinn eine ſtille Trauer den Hauptzug machte, die aber ſonſt nichts als einen graden guten Sinn ausdruͤkte, ſeine ſchwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey Rollen geſtekt, und die uͤbrigen in einen ſtarken Zopf geflochten, der ihm den Ruͤkken herunter hieng. Da mir ſeine Kleidung einen Menſchen von ge- ringem Stande zu bezeichnen ſchien, glaubt’ ich, er wuͤrde es nicht uͤbel nehmen, wenn ich auf ſei- ne Beſchaͤftigung aufmerkſam waͤre, und daher frag- te ich ihn, was er ſuchte? Jch fuche, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, Blumen — und fin- de keine — Das iſt auch die Jahrszeit nicht, ſagt’ ich laͤchelnd. — Es giebt ſo viel Blumen, ſagt er, indem er zu mir herunter kam. Jn mei- nem Garten ſind Roſen und Je laͤnger ie lieber zweyerley Sorten, eine hat mir mein Vater ge- geben, ſie wachſen wie’s Unkraut, ich ſuche ſchon zwey Tage darnach, und kann ſie nicht finden. Da haußen ſind auch immer Blumen, gelbe und blaue und rothe, und das Tauſend Guͤldenkraut hat ein ſchoͤn Bluͤmgen. Keines kann ich finden. Jch

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/52>, abgerufen am 22.11.2024.