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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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herum schwadroniren, verzweifl' ich an meiner
Kraft, an meinen Gaben. Guter Gott! der du
mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht
die Hälfte zurük und gabst mir Selbstvertrauen
und Genügsamkeit!

Gedult! Gedult! Es wird besser werden.
Denn ich sage dir, Lieber, du hast Recht. Seit ich
unter dem Volke so alle Tage herumgetrieben wer-
de, und sehe was sie thun und wie sie's treiben,
steh ich viel besser mit mir selbst. Gewiß, weil
wir doch einmal so gemacht sind, daß wir alles mit
uns, und uns mit allem vergleichen; so liegt
Glük oder Elend in den Gegenständen, womit
wir uns zusammenhalten, und da ist nichts ge-
fährlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungs-
kraft, durch ihre Natur gedrungen sich zu erheben,
durch die phantastische Bilder der Dichtkunst ge-
nährt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir
das unterste sind, und alles ausser uns herrlicher
erscheint, jeder andre vollkommner ist. Und das
geht ganz natürlich zu: Wir fühlen so oft, daß
uns manches mangelt, und eben was uns fehlt
scheint uns oft ein anderer zu besizzen, dem wir

denn



herum ſchwadroniren, verzweifl’ ich an meiner
Kraft, an meinen Gaben. Guter Gott! der du
mir das alles ſchenkteſt, warum hielteſt du nicht
die Haͤlfte zuruͤk und gabſt mir Selbſtvertrauen
und Genuͤgſamkeit!

Gedult! Gedult! Es wird beſſer werden.
Denn ich ſage dir, Lieber, du haſt Recht. Seit ich
unter dem Volke ſo alle Tage herumgetrieben wer-
de, und ſehe was ſie thun und wie ſie’s treiben,
ſteh ich viel beſſer mit mir ſelbſt. Gewiß, weil
wir doch einmal ſo gemacht ſind, daß wir alles mit
uns, und uns mit allem vergleichen; ſo liegt
Gluͤk oder Elend in den Gegenſtaͤnden, womit
wir uns zuſammenhalten, und da iſt nichts ge-
faͤhrlicher als die Einſamkeit. Unſere Einbildungs-
kraft, durch ihre Natur gedrungen ſich zu erheben,
durch die phantaſtiſche Bilder der Dichtkunſt ge-
naͤhrt, bildet ſich eine Reihe Weſen hinauf, wo wir
das unterſte ſind, und alles auſſer uns herrlicher
erſcheint, jeder andre vollkommner iſt. Und das
geht ganz natuͤrlich zu: Wir fuͤhlen ſo oft, daß
uns manches mangelt, und eben was uns fehlt
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[116/0004] herum ſchwadroniren, verzweifl’ ich an meiner Kraft, an meinen Gaben. Guter Gott! der du mir das alles ſchenkteſt, warum hielteſt du nicht die Haͤlfte zuruͤk und gabſt mir Selbſtvertrauen und Genuͤgſamkeit! Gedult! Gedult! Es wird beſſer werden. Denn ich ſage dir, Lieber, du haſt Recht. Seit ich unter dem Volke ſo alle Tage herumgetrieben wer- de, und ſehe was ſie thun und wie ſie’s treiben, ſteh ich viel beſſer mit mir ſelbſt. Gewiß, weil wir doch einmal ſo gemacht ſind, daß wir alles mit uns, und uns mit allem vergleichen; ſo liegt Gluͤk oder Elend in den Gegenſtaͤnden, womit wir uns zuſammenhalten, und da iſt nichts ge- faͤhrlicher als die Einſamkeit. Unſere Einbildungs- kraft, durch ihre Natur gedrungen ſich zu erheben, durch die phantaſtiſche Bilder der Dichtkunſt ge- naͤhrt, bildet ſich eine Reihe Weſen hinauf, wo wir das unterſte ſind, und alles auſſer uns herrlicher erſcheint, jeder andre vollkommner iſt. Und das geht ganz natuͤrlich zu: Wir fuͤhlen ſo oft, daß uns manches mangelt, und eben was uns fehlt ſcheint uns oft ein anderer zu beſizzen, dem wir denn

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/4>, abgerufen am 22.11.2024.