Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.so tausendmal der Gegenstand meiner Wünsche ge- wesen. Stundenlang konnte ich hier sizzen, und mich hinüber sehnen, mit inniger Seele mich in denen Wäldern, denen Thälern verliehren, die sich meinen Augen so freundlich dämmernd darstell- ten -- und wenn ich denn nun die bestimmte Zeit wieder zurük mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht den lieben Plaz! Jch kam der Stadt näher, alle alte bekannte Gartenhäusgen wurden von mir gegrüßt, die neuen waren mir zuwider, so auch alle Beränderungen, die man sonst vorgenommen hatte. Jch trat zum Thore hinein, und fand mich doch gleich und ganz wieder. Lie- ber, ich mag nicht in's Detail gehn, so reizend als es mir war, so einförmig würde es im der Erzäh- lung werden. Jch hatte beschlossen auf dem Mark- te zu wohnen, gleich neben unserm alten Hause. Jm Hingehen bemerkte ich daß die Schulstube, wo ein ehrlich altes Weib unsere Kindheit zusam- mengepfercht hatte, in einen Kram verwandelt war. Jch erinnerte mich der Unruhe, der Thränen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem Loche ausgestanden hatte -- Jch that kei- nen
ſo tauſendmal der Gegenſtand meiner Wuͤnſche ge- weſen. Stundenlang konnte ich hier ſizzen, und mich hinuͤber ſehnen, mit inniger Seele mich in denen Waͤldern, denen Thaͤlern verliehren, die ſich meinen Augen ſo freundlich daͤmmernd darſtell- ten — und wenn ich denn nun die beſtimmte Zeit wieder zuruͤk mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht den lieben Plaz! Jch kam der Stadt naͤher, alle alte bekannte Gartenhaͤusgen wurden von mir gegruͤßt, die neuen waren mir zuwider, ſo auch alle Beraͤnderungen, die man ſonſt vorgenommen hatte. Jch trat zum Thore hinein, und fand mich doch gleich und ganz wieder. Lie- ber, ich mag nicht in’s Detail gehn, ſo reizend als es mir war, ſo einfoͤrmig wuͤrde es im der Erzaͤh- lung werden. Jch hatte beſchloſſen auf dem Mark- te zu wohnen, gleich neben unſerm alten Hauſe. Jm Hingehen bemerkte ich daß die Schulſtube, wo ein ehrlich altes Weib unſere Kindheit zuſam- mengepfercht hatte, in einen Kram verwandelt war. Jch erinnerte mich der Unruhe, der Thraͤnen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangſt, die ich in dem Loche ausgeſtanden hatte — Jch that kei- nen
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ſo tauſendmal der Gegenſtand meiner Wuͤnſche ge-
weſen. Stundenlang konnte ich hier ſizzen, und
mich hinuͤber ſehnen, mit inniger Seele mich in
denen Waͤldern, denen Thaͤlern verliehren, die ſich
meinen Augen ſo freundlich daͤmmernd darſtell-
ten — und wenn ich denn nun die beſtimmte
Zeit wieder zuruͤk mußte, mit welchem Widerwillen
verließ ich nicht den lieben Plaz! Jch kam der
Stadt naͤher, alle alte bekannte Gartenhaͤusgen
wurden von mir gegruͤßt, die neuen waren mir
zuwider, ſo auch alle Beraͤnderungen, die man ſonſt
vorgenommen hatte. Jch trat zum Thore hinein,
und fand mich doch gleich und ganz wieder. Lie-
ber, ich mag nicht in’s Detail gehn, ſo reizend als
es mir war, ſo einfoͤrmig wuͤrde es im der Erzaͤh-
lung werden. Jch hatte beſchloſſen auf dem Mark-
te zu wohnen, gleich neben unſerm alten Hauſe.
Jm Hingehen bemerkte ich daß die Schulſtube,
wo ein ehrlich altes Weib unſere Kindheit zuſam-
mengepfercht hatte, in einen Kram verwandelt war.
Jch erinnerte mich der Unruhe, der Thraͤnen, der
Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangſt, die ich
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/28>, abgerufen am 16.02.2025. |