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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden
Reise ihre Pistolen leihen? Leben Sie
recht wohl.



Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig ge-
schlafen, ihr Blut war in einer fieberhaften Em-
pörung, und tausenderley Empfindungen zerrütte-
ten ihr Herz. Wider ihren Willen fühlte sie tief
in ihrer Brust das Feuer von Werthers Umar-
mungen, und zugleich stellten sich ihr die Tage ih-
rer unbefangenen Unschuld, des sorglosen Zutrauens
auf sich selbst in doppelter Schöne dar, es äng-
stigten sie schon zum voraus die Blikke ihres
Manns, und seine halb verdrüßlich halb spöttische
Fragen, wenn er Werthers Besuch erfahren wür-
de; sie hatte sich nie verstellt, sie hatte nie gelogen,
und nun sah sie sich zum erstenmal in der unvermeid-
lichen Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verle-
genheit die sie dabey empfand, machte die Schuld
in ihren Augen grösser, und doch konnte sie den
Urheber davon weder hassen, noch sich versprechen,
ihn nie wieder zu sehn. Sie weinte bis gegen
Morgen, da sie in einen matten Schlaf versank,

aus
O 3




Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden
Reiſe ihre Piſtolen leihen? Leben Sie
recht wohl.



Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig ge-
ſchlafen, ihr Blut war in einer fieberhaften Em-
poͤrung, und tauſenderley Empfindungen zerruͤtte-
ten ihr Herz. Wider ihren Willen fuͤhlte ſie tief
in ihrer Bruſt das Feuer von Werthers Umar-
mungen, und zugleich ſtellten ſich ihr die Tage ih-
rer unbefangenen Unſchuld, des ſorgloſen Zutrauens
auf ſich ſelbſt in doppelter Schoͤne dar, es aͤng-
ſtigten ſie ſchon zum voraus die Blikke ihres
Manns, und ſeine halb verdruͤßlich halb ſpoͤttiſche
Fragen, wenn er Werthers Beſuch erfahren wuͤr-
de; ſie hatte ſich nie verſtellt, ſie hatte nie gelogen,
und nun ſah ſie ſich zum erſtenmal in der unvermeid-
lichen Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verle-
genheit die ſie dabey empfand, machte die Schuld
in ihren Augen groͤſſer, und doch konnte ſie den
Urheber davon weder haſſen, noch ſich verſprechen,
ihn nie wieder zu ſehn. Sie weinte bis gegen
Morgen, da ſie in einen matten Schlaf verſank,

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O 3
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[213/0101] Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reiſe ihre Piſtolen leihen? Leben Sie recht wohl. Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig ge- ſchlafen, ihr Blut war in einer fieberhaften Em- poͤrung, und tauſenderley Empfindungen zerruͤtte- ten ihr Herz. Wider ihren Willen fuͤhlte ſie tief in ihrer Bruſt das Feuer von Werthers Umar- mungen, und zugleich ſtellten ſich ihr die Tage ih- rer unbefangenen Unſchuld, des ſorgloſen Zutrauens auf ſich ſelbſt in doppelter Schoͤne dar, es aͤng- ſtigten ſie ſchon zum voraus die Blikke ihres Manns, und ſeine halb verdruͤßlich halb ſpoͤttiſche Fragen, wenn er Werthers Beſuch erfahren wuͤr- de; ſie hatte ſich nie verſtellt, ſie hatte nie gelogen, und nun ſah ſie ſich zum erſtenmal in der unvermeid- lichen Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verle- genheit die ſie dabey empfand, machte die Schuld in ihren Augen groͤſſer, und doch konnte ſie den Urheber davon weder haſſen, noch ſich verſprechen, ihn nie wieder zu ſehn. Sie weinte bis gegen Morgen, da ſie in einen matten Schlaf verſank, aus O 3

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/101>, abgerufen am 23.11.2024.