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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Was man ein Kind ist! Was man nach so ei-
nem Blikke geizt! Was man ein Kind ist!
Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauen-
zimmer fuhren hinaus, und während unsrer Spa-
ziergänge glaubt ich in Lottens schwarzen Augen --
Jch bin ein Thor, verzeih mir's, du solltest sie
sehn, diese Augen. Daß ich kurz bin, denn die
Augen fallen mir zu vom Schlaf. Siehe die
Frauenzimmer steigen ein, da stunden um die Kut-
sche der junge W. .. Selstadt und Audran,
und ich. Da ward aus dem Schlage ge-
plaudert mit den Kerlgens, die freylich leicht und
lüftig genug waren. Jch suchte Lottens Augen!
Ach sie giengen von einem zum andern! Aber auf
mich! Mich! Mich! der ganz allein auf sie re-
signirt dastund, fielen sie nicht! Mein Herz sagte
ihr tausend Adieu! Und sie sah mich nicht! Die
Kutsche fuhr vorbey und eine Thräne stund mir
im Auge. Jch sah ihr nach! Und sah Lottens
Kopfputz sich zum Schlag heraus lehnen, und sie
wandte sich um zu sehn. Ach! Nach mir? --

Lieber!





Was man ein Kind iſt! Was man nach ſo ei-
nem Blikke geizt! Was man ein Kind iſt!
Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauen-
zimmer fuhren hinaus, und waͤhrend unſrer Spa-
ziergaͤnge glaubt ich in Lottens ſchwarzen Augen —
Jch bin ein Thor, verzeih mir’s, du ſollteſt ſie
ſehn, dieſe Augen. Daß ich kurz bin, denn die
Augen fallen mir zu vom Schlaf. Siehe die
Frauenzimmer ſteigen ein, da ſtunden um die Kut-
ſche der junge W. .. Selſtadt und Audran,
und ich. Da ward aus dem Schlage ge-
plaudert mit den Kerlgens, die freylich leicht und
luͤftig genug waren. Jch ſuchte Lottens Augen!
Ach ſie giengen von einem zum andern! Aber auf
mich! Mich! Mich! der ganz allein auf ſie re-
ſignirt daſtund, fielen ſie nicht! Mein Herz ſagte
ihr tauſend Adieu! Und ſie ſah mich nicht! Die
Kutſche fuhr vorbey und eine Thraͤne ſtund mir
im Auge. Jch ſah ihr nach! Und ſah Lottens
Kopfputz ſich zum Schlag heraus lehnen, und ſie
wandte ſich um zu ſehn. Ach! Nach mir? —

Lieber!
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[62/0062] am 8. Juli. Was man ein Kind iſt! Was man nach ſo ei- nem Blikke geizt! Was man ein Kind iſt! Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauen- zimmer fuhren hinaus, und waͤhrend unſrer Spa- ziergaͤnge glaubt ich in Lottens ſchwarzen Augen — Jch bin ein Thor, verzeih mir’s, du ſollteſt ſie ſehn, dieſe Augen. Daß ich kurz bin, denn die Augen fallen mir zu vom Schlaf. Siehe die Frauenzimmer ſteigen ein, da ſtunden um die Kut- ſche der junge W. .. Selſtadt und Audran, und ich. Da ward aus dem Schlage ge- plaudert mit den Kerlgens, die freylich leicht und luͤftig genug waren. Jch ſuchte Lottens Augen! Ach ſie giengen von einem zum andern! Aber auf mich! Mich! Mich! der ganz allein auf ſie re- ſignirt daſtund, fielen ſie nicht! Mein Herz ſagte ihr tauſend Adieu! Und ſie ſah mich nicht! Die Kutſche fuhr vorbey und eine Thraͤne ſtund mir im Auge. Jch ſah ihr nach! Und ſah Lottens Kopfputz ſich zum Schlag heraus lehnen, und ſie wandte ſich um zu ſehn. Ach! Nach mir? — Lieber!

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/62>, abgerufen am 21.11.2024.